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Ost und West, Nord und Süd


Wo die Sprachen Babylons Musik werden

von Noshin Shahrokhi



„Schmerzlos sind wir und haben fast Die Sprache in der Fremde verloren."
Friedrich Hölderlin, Mnemosyne [1]

Wenn ich mir eine Traum-Bibliothek vorstelle, dann wird das bei manchen bestallten Hütern des Nationalerbes Bedenken oder gar Schmerzen hervorrufen. Meine Traumbibliothek würde nicht nur e i n e Sprache präsentieren, die deutsche, oder die anerkannten europäischen Sprachen „mit Prestige“, mein Bild einer babylonischen Bibliothek entspräche dem Kern vieler Kulturen:

Kulturen sind in ihren Sprachen verflochten und sollten sich durch ihre Bücher, ihre Literatur offenbaren. Eine Bibliothek aber, die nicht nur verschriftete Kulturen birgt, sondern auch zum Ort der Begegnung und des Austausches wird, eine Bibliothek voll unterschiedlicher Haut- und Haarfarben, Akzenten, Kleidern, Bewegungen, Stimmen und Sprachen würde als Haus Babylon das moderne Leben der Grossstadt wie in einem Netzknoten bündeln und wieder verteilen: Ein Ort des Kulturschocks und des Verständnisses, der Urteilsbildung und der Toleranz, ein Sinnbild der Freiheit und der Einigungsfähigkeit der Menschen! Noch aber läuft alles seine gewohnten Bahnen und von derartigen Fähigkeiten sind wir weit entfernt. Mythologische Erinnerungen wollen uns etwas ganz anderes aufdrängen:

Die Babylonier, die doch nur eine Sprache hatten und ein Volk waren, bauten ihren berühmten Turm. Sie wollten sich zur „Göttlichkeit“ emporzuschwingen, über sich selbst hinauszuwachsen und in den Himmel gelangen... Die Götter duldeten diese Unverschämtheit der Babylonier, diese in’s Riesenhafte gewachsenen Menschen nicht und verwirrten ihre Sprache und zerstreuten sie in alle Länder.

Wenn man die Einstimmigkeit der Menschen mit dem Paradies vergleicht, ist der Turmbau die Verführung, sozusagen der Apfel Eva’s und die Zerstreuung und Sprachverwirrung ist die Vertreibung aus dem Paradies, sozusagen das Exilleben des Menschen in den entlegendsten Erdteilen. In unserer Bibliothek suche ich keinen babylonischen Turmbau mit einem Volk und einer Sprache, um in den Himmel zu gelangen und Gott zu werden. Ich suche einen Ort, um allen Völkern und Sprachen, mit all ihren Unterschieden, mit all ihren geschriebenen Büchern, unter einem Dach zu begegnen. Das ist ein Bild der Menschheit und des Menschsein. Mensch zu sein ist aber nicht einfacher als Gott zu werden! Unser Bibliotheksverbund, seine online-Ausgabe und das vereinigende und schützende reale Dach braucht daher Geduld und langen Atem, so als wären die Neu-Babylonier Komödianten: Sie bringen ihre Diversität auf die Bühne und müssen wie Theaterregisseure ihre Stimmen choreographieren.

Um Mensch zu sein und keinen Teil der Masse, soll der Mensch seine eigene Stimme haben und seine unterschiedliche Art des Denkens. Homogenisierten Massen hat man die Stimme genommen, sie haben nur eine einzige Sprachnorm. Dagegen setzen wir: Jede Person hat ihre eigene Stimme, die sich von den anderen unterscheidet. Und mehr noch: Jede der 6000 Sprachen, über die die Menschen verfügen, ist eine besondere Art des Denken, die sich von anderen Arten des Denkens unterscheidet. Bevor die Sprache ein Instrument der Kommunikation sein kann, ist sie auf jeden Fall die Grundlage habituell verfestigter Kulturen.

Der Grund und die Quelle der Sprache geht auf das griechische Wort „Mnemosyne“ zurück, und meint die Göttin des Gedächtnis’. Oder wie Heidegger es formuliert: „Gedächtnis, die Mutter der Musen: das Andenken an das zu-Denkende ist der Quellgrund des Dichtens. Das Dichten ist darum das Gewässer, das bisweilen rückwärts fließt der Quelle zu, zum Denken als Andenken.“ [2]

Aber was ist formulierte Erinnerung, was ermöglicht uns das Andenken ? Wenn wir sprechen, lassen wir die Stimme unserer Seele erklingen. Die Sprache nenne ich „Stimme der Seele“. Die Seele, die, gesprochen und sogar geschrieben, verewigt sich in den Herzen der Nachkommen. Die Stimmen sind in Laut und Klang verschieden, wie die einzelnen Gesichter, und doch entspringen sie aus einer einzigen Seelen-Quelle. Dann aber wandern die Stimmen von Körper zu Körper, von Generation zu Generation. Die Stimme kann einstimmig sein oder auch vielfältig. Es hängt von der Vielfältigkeit unserer Seelen ab.

Wie schön wird im Osten die Seele mit dem belebenden Wasser verglichen. Fließendes Wasser hat Stimmen. Es wandert durch die Landschaften und träumt von der Vereinigung mit den anderen Flüssen. Es träumt von der See, dem Ozean. Die Stimmen einer Gesellschaft können die Wellen des Meeres sein, das die vielen Stimmen in sich trägt. Die Stimme einer Gesellschaft kann aber auch die Stummheit eines Teiches annehmen. Es ist kein Schicksal der Gesellschaft, unbewegtes und ruhendes Gewässer zu bleiben. Es ist kein Schicksal der Gesellschaft, sondern es hat mit unserem Willen zu tun, ob es Bemühungen gibt, den Teich in einen Fluss zu verwandeln.Wenn wir die scheinbar unabänderliche Gewohnheitskultur beenden sind wir zu allem fähig: zur Selbstauslöschung und zum klangvollen Fliessen des Textes.

Mir erging dies so: Bevor ich Deutsch lernte, hatte ich bereits ein Paar philosophische Bücher gelesen: auf Persisch. Damals dachte ich, dass ich den Sinn der Bücher verstanden hätte. Später, als ich Nietzsche, Heidegger oder Adorno im Original der philosophischen Sprache las, wurde mir deutlich, dass ich damals nur gelesen aber nichts verstanden hatte, weil ich die deutsche Sprache und Kultur nicht kannte. Vielleicht ist es auch für die deutschen Philosophen interessant, den Klang der d i c h t e r i s c h e n Sprache, neben ihrer Eindeutschung, im persischen Original zu hören. Wenn Goethe von sieben Dichterkönigen spricht, die alle auf Persisch geschrieben haben, kann man, ihm folgend, Persisch vielleicht als Stimme der Nachtigall bezeichnen, als Inkarnation der Poesie. Und auch die anderen Sprachen haben ihre bestimmten Merkmale. Italienisch klingt für mich wie die Musik oder Französisch wie die Liebe.

Eine internationale Bibliothek ist ein Konzertsaal, der die unterschiedlichen Stimmen der Menschen zur Musik macht. Unsere Stimmen des Wissens und der ertragenen Emotionen, unser Ort des Stimmenaustausches und der Textflüsse könnte die Kraft zuwachsen, Babylon zur demokratischen Metropole zu verwandeln.

 

 

 

1. Friedrich Hölderlin, Die späten Hymnen, Karlsruhe, o. J., S. 151
2. Heidegger, Martin, Was heißt Denken ? Stuttgart 1992, S. 12

© Hannah-Arendt-Bibliothek