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Europa und seine Flüchtlinge


Hannah Arendt über die notwendige Politisierung von Minderheiten

von Wolfgang Heuer


Im Januar 1940, kurz bevor Arendt interniert wurde, schrieb sie einen außerordentlich radikalen Brief über die Lage in Europa an ihren Freund Erich Cohn-Bendit:

„Alle Minderheitenpolitik, nicht nur die jüdische, ist gescheitert an der bestehend bleibenden Staatssouveränität.“ Denn „mit dem Beginn der russischen Massenemigration, also spätestens 1923/24 (...) können wir das Entstehen einer ganz neuen europäischen Menschenklasse beobachten: die Staatenlosen. Sieht man die europäische Geschichte als die Entwicklung der europäischen Nationen oder als die Entwicklung europäischer Völker zu Nationen, so sind sie, die Staatenlosen, das wichtigste Produkt der neueren Geschichte. Seit 1920 beherbergen fast alle europäischen Staaten größere Massen von Menschen, die nirgends Heimatrecht haben, nirgends konsularisch geschützt, moderne Paria. (...)

Die Unmöglichkeit, diese Menschenmassen zu absorbieren, zeigt deutlich, dass das Faktum der Assimilation an Bedeutung entscheidend verloren hat. Es gibt in Europa keine Assimilation mehr, die Nationen sind zu entwickelt und zu alt. Es gibt auch für Juden keine Assimilation mehr. Die Assimilationschance des 19. Jahrhunderts (...) lag gerade in der durch die Französische Revolution hervorgerufene Neukonstituierung der Völker und in ihrer Entwicklung zu Nationen. Dieser Prozess ist heute aber abgeschlossen. Es kann keiner mehr hinzukommen. Ja, es findet der umgekehrte Prozess statt: der der Ausgliederung sehr großer Menschenmassen und ihre Depravierung zu Paria.

Diese Paria nun, obwohl Europäer, sind von allen spezifisch nationalen Interessen getrennt, sie sind an einer gesamteuropäischen Politik die zuerst Interessierten.“ Minderheitenrecht, so Arendt, ist angesichts dieser Lage völlig ungenügend, es kann nur noch kulturelle Autonomie bedeuten. Aber: „Kultur ohne Politik, d.h. ohne Geschichte und nationalen Zusammenhang, wird zur dümmlichen Folklore und zur völkischen Barbarei.“[1]

Hannah Arendts Brief gipfelt in einem Plädoyer für ein „neues föderales System Europa“: „Es scheint mir keine Utopie, auf die Möglichkeit eines Nationenverbandes mit europäischem Parlament zu hoffen“, in dem auch das jüdischen Volk als europäische Nation anerkennt und vertreten wäre.

Dieser Brief ist so etwas wie Arendts politisches Manifest, das sich in ihren weiteren Schriften niederschlägt. Im zweiten Teil ihres Buches „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ analysiert sie ausführlicher das, was sie als den Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte und als die Entstehung der Nation der Minderheiten und des Volks der Staatenlosen bezeichnet. Er enthält bereits auch die Idee der Föderation als Alternative zum souveränen Nationalstaat, in der sie durch ihre Begegnung mit ihrem zweiten dauerhaften Asylland USA bekräftigt wird. Und drittens enthält dieser Brief eine Wende hin zum politischen Handeln. Die Minderheiten und Staatenlosen, die ihrer Rechte Beraubten, die Ungesicherten und Gesichtslosen, die Opfer treten aus dem Dunkel der Recht- und Gesichtlosigkeit hinaus in das Licht der Politik: sie werden als Parias zu Akteuren. Hannah Arendt hat in den 30er Jahren ihre Arbeit über die scheiternden Versuche der Assimilation Rahel Varnhagens mit dem bewussten Verzicht Varnhagens auf die Assilimation und ihre bewusste Entscheidung für das Leben des Paria beendet. Sie hat 1943 einen aufwühlenden Artikel im Menorah Journal unter dem Titel ‚We Refugees’ veröffentlicht, der für ein politisches Selbstbewusstsein der Flüchtlinge als Paria plädiert, und ein Jahr später den Text ‚Die verborgene Tradition’, in dem sie die Rebellion des Paria zur einzigen Chance für sein Überleben erklärt.

Diese Texte beziehen sich zweifellos auf die spezifische Lage nach dem Ersten Weltkrieg, als mit der Auflösung der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie und des russischen Reiches Massen von Staatenlosen und Flüchtlingen entstanden und die totalitären Systeme vor allem Deutschlands an die sogenannte „Endlösung“ der Ungesicherheit ihrer Existenz gingen. Obwohl sich die Lage in Europa heute davon unterscheidet - so haben wir inzwischen das von Arendt favorisierte föderale Europa und auch ein Bewusstsein davon, dass es des von Arendt geforderten Rechts bedarf, Rechte zu haben, so sind doch die von Arendt beschriebenen Gefahren nach wie vor aktuell, Gefahren, die von ungelösten Problemen und ihrer Verschärfung für freie Gesellschaften ausgehen. Auf diese Gefahren will ich im folgenden eingehen und anschließend die Bedeutung von Arendts Perspektivwechsel vom Opfer zum handelnden Paria diskutieren. Beide Themen werden von Arendt politisch diskutiert, deshalb handelt es sich um Politisierung der Minderheiten im doppelten Sinn.

I.

Die Gefahren, die von den ungelösten politischen Problemen ausgingen, betrafen natürlich in erster Linie die Staatenlosen und Flüchtlinge selbst. Für Arendt lässt sich rückblickend ein verhängnisvoller Prozess ausmachen, den sie, ihrer Analyse in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ folgend und zugleich verschärfend, in einem Seminar über ‚Statelessness’ in Berkeley 1955[2] folgendermaßen zusammenfasste:

Als die Zahl der Flüchtlinge und Staatenlose anschwoll, versuchten die europäischen Politiker zunächst, ihrem unklaren Status dadurch gerecht zu werden, dass sie einen Flüchtlingspass, den sogenannten Nansenpass, unter Aufsicht der Liga der Nationen ausgaben. Als sich herausstellte, dass es sich nicht um vorübergehende, sondern dauerhafte Flüchtlinge handelte, verlor dieser Pass seine Gültigkeit, und die Politiker zogen es nun vor, das Problem zu ignorieren, indem sie den Unterschied zwischen Flüchtlingen und Staatenlosen aufhoben und jegliche Flüchtlingsarbeit einstellten. Die Folge war, dass die nunmehr ausschließlich Staatenlosen zu „unerwünschten“ Personen erklärt wurden.

Die bis dahin übliche Bezeichnung von Staatenlosen als Flüchtlinge war von der Hoffnung ausgegangen, dass das Asylrecht wirksam wäre und sich karitative Organisationen um die Flüchtlinge kümmern würden. Doch das Asylrecht verlor, so Arendt, aus zwei Gründen seine Gültigkeit: erstens gab es zu viele Flüchtlinge und zweitens konnten sie nicht als Flüchtlinge anerkannt werden, weil sie nicht verfolgt wurden. Auch die karitative Lösung funktionierte nicht, weil sie keinerlei rechtliche Bedeutung hatte: „Nächstenliebe hätte erst wirksam werden können, nachdem den Flüchtlingen Gerechtigkeit widerfahren wäre. (...) Sie der Obhut von barmherzigen Organisationen zu übergeben bedeutete praktisch: sie sind vollkommen rechtlos, sie haben kein Recht zu leben in dem Sinne von: sie haben auf der Erde nichts zu suchen.“

Arendt betonte, dass bei alldem kein böser Wille im Spiel war. Die Politiker suchten nur nach Lösungen, die ihnen die Grenzen der nationalen Souveränität vorgaben: Einbürgerung oder Repatriierung bzw. Ausweisung. Aber innerhalb dieser Grenzen konnten sie nicht handeln. Denn die Masseneinbürgerung überforderte offenbar die Institutionen - Arendt nennt das Beispiel von 35.000 Armeniern in Griechenland 1936 -, und eine Repatriierung war nicht möglich, weil die Ursprungsländer in der Regel die Rücknahme verweigerten. Die Ausweisung schließlich war ebenfalls unmöglich, weil man die Staatenlosen nicht einfach deportieren konnte. So wurden Internierungslager gebaut, wenn nicht schlimmer: Konzentrationslager.

Was zeichnete nun die Staatenlosen selber aus? Sie unterschieden sich von Kriminellen in Begriffen der nationalen Gesetze und von Feinden in Kriegszeiten in Begriffen des internationalen Rechts. Das bedeutet: Kriminelle handeln aus freien Stücken und bewegen sich nicht außerhalb des Rechts, sie können sich auf ihr Recht berufen. Das Handeln der Polizei ihnen gegenüber ist an das Recht gebunden und auch die Strafe folgt dem Gesetz. Haftstrafe und Essen, so Arendt, werden nicht mit Hilfe der Nächstenliebe, sondern des Rechts geregelt. Bei den Staatenlosen ist es umgekehrt, sie stehen außerhalb des Rechts, und nicht ihr Handeln, sondern ihre bloße Existenz hat staatliche Maßnahmen zur Folge.

Das Problem, das sich nun für die Länder ergibt, in denen sich die Staatenlosen befinden, liegt in der „Verbreitung von Ungesetzlichkeit“, das heißt in der Ausbreitung eines ungesetzlichen Handelns gegenüber jenen, die sich in einem rechtlosen Zustand befinden. Da für sie nicht das Gesetz, sondern die Polizei zuständig ist, ändert auch die Polizei ihren Charakter. Je weniger sich die Politiker imstande sehen, politisch zu handeln, umso mehr überlassen sie, oder besser: übertragen sie das Handeln der Polizei. Die Polizei gerät dadurch unter Druck, ihre Beschränkung, nur ausführendes Organ der Gesetze zu sein, zu überschreiten und Gesetzgeber und ausführendes Organ in einem zu werden; dadurch „herrscht sie über Menschen, wird zu einem Subjekt, zu einem Staat im Staat, zu einem König im Königreich“. Mit der Errichtung von Konzentrationslagern erhält sie schließlich auch noch eine Art von Territorium.

Spätestens jetzt wird die Frage der Menschenrechte akut, nämlich dann, wenn Nationalität und Bürgerrechte nicht mehr vor staatlicher und Polizeiwillkür schützen. Aber es gab keine internationale Einrichtung, die die Souveränität eines Landes hätte begrenzen können. Die Staatenlosen waren der nationalen Willkür schutzlos unterworfen. Rechtlosigkeit, Willkür und schließlich Vernichtung standen am Ende eines schleichenden Niedergangs, dessen Anfang von politischer Hilflosigkeit in einem System nationalstaatlicher Souveränität geprägt war. Die Schlussfolgerung, die Arendt daraus zog, lautete: es bedarf eines umgekehrten Menschenrechts: jeder Mensch braucht von Geburt an den Schutz unveräußerlicher Rechte, „ein international garantiertes Recht auf Staatsbürgerschaft“. Ohne das „werden wir mehr und mehr Menschen haben, die hinsichtlich ihres rechtlichen Status nicht mehr menschlich sein werden, die nicht mehr länger einen Platz in der Menschheit haben werden“.

Das System der Nationalstaaten erwies sich also als unfähig, das Schicksal von Minderheiten, Flüchtlingen und Staatenlosen auf menschliche Weise zu lösen. Die Europäisierung der Flüchtlingsbewegungen bedurfte also einer europäischen Antwort. Arendt gab eine Antwort, nämlich die politische Europäisierung der Nationen, das heißt ihre Föderation, die Föderation der europäischen Staaten, um weiteren Nationen, gemeinhin als Nationalitäten bezeichnet, die nicht an ein Territorium gebunden waren, einen Platz in der Gemeinschaft der Nationen einräumen zu können. Der Nationalsozialismus gab eine andere Antwort, die der völkischen Europäisierung der Nationen, das heißt der Unterwerfung unter das „Dritte Reich“. Arendt plädierte für die Auflösung der Einheit von Nation, Territorium und Staat, auf der die modernen Nationalstaaten beruhen, zugunsten des Staates im Sinne des politischen Raums und der politischen Bürgerschaft. Der Nationalstaat, so Arendt, barg immer die Gefahr in sich, dass die Nation den Staat übernahm – als volonté général, als demokratischer Populismus oder als völkische oder heute: als ethnische Bewegung.

II.

Bevor ich auf die Veränderungen heute, die Globalisierung der Flüchtlinge und das Problem einer europäischen Antwort darauf zu sprechen komme, möchte ich den zweiten, anfangs genannten Aspekt beleuchten: die Politisierung der Flüchtlinge, nicht nur ihres Status, sondern auch ihres Denkens und Handelns. In ihrem Text „Wir Flüchtlinge“ beschreibt Arendt 1943, zehn Jahr nach ihrer Flucht aus Deutschland und zwei Jahre nach ihrer Flucht aus Frankreich, in sehr bitter ironischem Ton das Verhalten von Flüchtlingen in ihrer Umgebung. Ironisch, weil Arendt die Flüchtlinge fast karikaturhaft in ihrem eifrigen Bemühen zeichnet, sich zu assimilieren, ununterscheidbar zu werden, die Vergangenheit zu vergessen und alle Probleme individuell zu lösen. Dazu lässt sie sie unmittelbar zu uns sprechen: „Wir taten unser Bestes, um anderen Leuten zu beweisen, dass wir ganz gewöhnliche Einwanderer seien. Wir erklärten, dass wir uns ganz freiwillig auf den Weg in ein Land unserer Wahl gemacht hätten, und bestritten, dass unsere Situation irgend etwas mit ‚sogenannten jüdischen Problemen’ zu tun hätte.“ [3] Es ist zugleich ein bitterer Ton, weil Arendt selber zu diesen Wir, zu diesen Flüchtlingen, gehört, aber umso entschiedener ihre Haltung kritisiert.

Diese Flüchtlinge, so Arendt, haben ihre Sprache verloren und somit die Natürlichkeit ihrer Reaktionen, die Einfachheit von Gesten, den unaffektierten Ausdruck ihrer Gefühle. Sie haben ihre Verwandten in polnischen Ghettos zurückgelassen und ihre besten Freunde wurden in Konzentrationslagern ermordet – was nichts anderes bedeutet, als dass es einen Bruch in der Kontinuität ihres privaten Lebens gibt. Sie sind der Anweisung, alles zu vergessen, schneller als für möglich gehalten gefolgt. Um besser vergessen zu können, vermeiden sie auch alle Anspielungen auf ihre Erfahrungen in Konzentrations- und Internierungslagern. „Doch manchmal stelle ich mir vor, dass wir zumindest nachts an unsere Toten denken oder uns an die einst geliebten Gedichte erinnern. (...) Am helllichten Tag sind wir natürlich bloß ‚der Form nach’ feindliche Ausländer.“ [4] Mit anderen Flüchtlingen reden sie weder über ihre Erfahrungen noch über ihr Leiden. Und wo die Gegenwart nicht mehr die Vergangenheit und der Optimismus das Leiden nicht mehr überdecken können, begehen sie Selbstmord - ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

Damit nicht genug, fühlen sie sich auch „erniedrigt, wenn sie gerettet werden“, und herabgesetzt, wenn ihnen geholfen wird. Sie suchen mit aller Kraft ihr Heil in der privaten Existenz mit individuellen Zielen. Und um der unsicheren neuen Existenz Halt zu geben, berufen sie sich auf ihre frühere großartige Existenz, die sie verloren haben. „Je weniger wir frei sind zu entscheiden, wer wir sind oder wie wir leben wollen, desto mehr versuchen wir, eine Fassade zu errichten, die Tatsachen zu verbergen und in Rollen zu schlüpfen. (...) Sieben Jahre lang spielten wir die lächerliche Rolle von Leuten, die versuchten, Franzosen zu sein, oder zumindest künftige Staatsbürger; aber bei Kriegsausbruch wurden wir trotzdem als ‚boches’ interniert. In der Zwischenzeit aber waren die meisten von uns tatsächlich derart loyale Franzosen geworden, dass wir nicht einmal einen französischen Regierungserlass kritisieren konnten.“[5]

Es herrscht, wie Arendt es bezeichnet, eine allgemeine Konfusion dieser Odysseushaften Wanderer, die nicht wissen, wer sie sind, weil sie die perfekte Manie entwickelt haben, jegliche Identität von sich zu weisen.

Was aber sollen sie tun? Sollen sie sich ihres Judeseins erinnern und öffentlich dazu stehen? Das aber würde bedeuten, sich dem bloßen Leben, dem Agambenschen bare life auszusetzen, „dem Schicksal bloßen Menschseins (...); wir wären dann, von keinem spezifischen Gesetz und keiner politischen Konvention geschützt, nichts weiter als menschliche Wesen. Eine gefährlichere Einstellung kann ich mir kaum vorstellen, denn tatsächlich leben wir in einer Welt, in welcher bloße menschliche Wesen schon eine geraumen Weile nicht mehr existieren. Die Gesellschaft hat mit der Diskriminierung das soziale Mordinstrument entdeckt, mit dem man Menschen ohne Blutvergießen umbringen kann; Pässe oder Geburtsurkunden, und manchmal sogar Einkommensteuererklärungen, sind keine formellen Unterlagen mehr, sondern zu einer Angelegenheit der sozialen Unterscheidung geworden.“[6]

Die Flucht vor der Gefahr dieses bloßen Menschseins in die Verkleidung einer anderen Kultur, in die bloßen Fassade und Identitätslosigkeit aber führt zu den seelischen Leiden bis hin zum Selbstmord, die Arendt erwähnte. Aber es gibt eine Alternative: den Paria, der sich nicht versteckt, und der sich auch nicht wehrlos dem bloßen Menschsein aussetzt, sondern der „bewusst“ ist und der mit diesem Bewusstsein handelt. Er gehört, so Arendt, zur verborgenen Tradition hinter der sichtbaren Tradition der Parvenus. Zu dieser verborgenen Tradition zählt Arendt Heinrich Heine, Rahel Varnhagen, Bernard Lazare (ein jüdischer Rebell innerhalb des Judentums im 19. Jahrhundert) und Franz Kafka. Nicht, dass diese Parias sie durch ihr eigensinniges Bewusstsein geschützter wären, im Gegenteil. „Es stimmt (...), dass die ganz wenigen unter uns, die versucht haben, ohne all diese faulen Tricks der Anpassung und Assimilation ihren Weg zu machen, einen zu hohen Preis bezahlt haben: sie setzten die wenigen Chancen aufs Spiel, die sogar ein Vogelfreier in dieser verkehrten Welt noch besitzt.“[7]

Aber dieses Bewusstsein, das so viel Mut erfordert, sobald es praktisch wird, ist die Voraussetzung dafür, dass die Flüchtlinge von Getriebenen zu Akteuren werden. Dabei geht es nicht in erster Linie um politische Ziele und Programme, sondern eine innere Haltung und Stärke, die sich in zwischenmenschlichen Qualitäten äußert. Die „bewussten“ Parias zeichnen sich, so Arendt, durch „das jüdische Herz, Menschlichkeit, Humor und desinteressierte Intelligenz“ aus, während die Parvenus „Taktlosigkeit, politische Dummheit, Minderwertigkeitskomplexe und Geldscheffeln“[8] kennzeichnet.

Wie sehr Arendt diese Parias schätzte, zeigt ihr ungewöhnlicher Nachruf 1954 auf ihren Freund Waldemar Gurian. Er stammte aus St. Petersburg, war ein zum Katholizismus konvertierter russischer Jude und gilt als einer der führenden Interpreten des politischen Katholizismus und als Theoretiker des Totalitarismus. Er war eine wichtige Stimme der jüdischen Emigranten in den USA, arbeitete als Politikwissenschaftler und Publizist und wurde Rektor der amerikanischen Universität Notre Dame. Arendts Nachruf erschien in der von Gurian herausgegebenen Fachzeitschrift "The Review of Politics". Dieser Nachruf zeigt, wie sehr Arendt an das Wer dieses Menschen und nicht an das Was seiner politologischen Qualitäten erinnerte.

Arendt rühmte seine Fähigkeit zur Freundschaft: Er kam als Fremder, aber "er hatte erreicht, was uns allen aufgegeben ist: In dieser Welt hatte er seinen Wohnsitz errichtet und sich durch Freundschaft ein Zuhause auf der Erde geschaffen."[9]

Sie rühmte "die Treue zu seinen Freunden, zu jedem, den er je gekannt, zu allem, was er je geliebt, die Tonart, auf die sein Leben eingestimmt war, so dass man versucht ist zu behaupten, dass das ihm fernstliegende Verbrechen das des Vergessens war - ein Verbrechen, welches im Bereich der menschlichen Beziehungen vielleicht zu den schwersten gehört."[10]

Sie rühmte die Menschlichkeit, die mehr bedeutet als bloße Freundlichkeit und Güte. Wir neigen dazu, "uns mit dem, was wir machen und tun, zu identifizieren. Dabei vergessen wir häufig, dass es das große Vorrecht jedes Menschen bleibt, dass er wesensmäßig und allzeit mehr ist als alles, was er herstellen oder erreichen kann; dass er nicht nur nach jeder Arbeit oder Leistung als der noch nicht erschöpfte, gänzlich unerschöpfliche Quell weiterer Leistungen weiterbesteht, sondern sich in seinem wirklichen Wesen jenseits aller Leistungen befindet, unberührbar und durch sie nicht eingegrenzt ist."[11] Er ist einer der wenigen, die Arendt kannte, der "von dem bürgerlichen Leistungsbegriff ganz unabhängig geblieben" ist "und darum ein Bild vom Menschen" hat.[12]

Und schließlich rühmte Arendt die unabhängige Urteilsfähigkeit, "den unfehlbaren Sinn für Qualität und Relevanz. (...) In den nicht häufigen Fällen, in denen Menschen diesen Sinn besaßen und sich entschlossen, ihn nicht gegen leichter erkennbare und annehmbare Werte einzutauschen, hat er sie untrüglich weit getragen, über die Konventionen und etablierten gesellschaftlichen Normen hinaus und direkt hinein in die Gefahren eines Lebens, das nicht mehr von den Mauern der Objekte und den Stützpfeilern objektiver Wertungen geschützt wird."[13]

Deshalb war Gurian Nonkonformist und Realist zugleich. "Seine ganze geistige Existenz war auf die Entscheidung, sich niemals einzupassen und niemals davonzulaufen, aufgebaut, womit nur in anderer Weise gesagt ist, dass sie auf Mut gründete." [14]"Er freute sich, wenn er die Barrieren der sogenannten zivilisierten Gesellschaft niederreißen konnte, weil er in ihnen Schranken sah, die menschliche Seelen voneinander trennen. Unschuld und Mut waren der Quell dieser Freude - die Unschuld in umso bezaubernderer Weise, als sie sich in einem Mann ereignete, der sich so extrem gut in der Welt auskannte und deshalb allen Mut, dessen er fähig war, benötigte, um seine ursprüngliche Unschuld lebendig und unversehrt zu halten. Er war ein sehr mutiger Mann."[15]

Natürlich sind diese Parias nicht die einzigen, die politisch handeln; es gibt auch verschiedene zionistische Organisationen, die aber Arendt wegen ihres Nationalismus und ihrer gewaltsamen Methoden in Palästina bis zur Staatsgründung Israels ablehnt. Sie schätzt nicht die „bewussten Parias’“ als die moralisch Besseren, sondern als jene, die das verkörpern, was sie später als Weltlichkeit und Interesse an der gemeinsamen Welt bezeichnet, die nicht auf stumme Gewalt und Politik als Herstellensprozess setzen, sondern auf die gemeinsame Bildung von Macht und die Öffnung eines politischen Raums. Deshalb kann Arendt behaupten: „Die von einem Land ins andere vertriebenen Flüchtlinge repräsentieren die Avantgarde ihrer Völker – wenn sie ihre Identität aufrechterhalten.“[16]

III.

Sehen wir uns das Szenario aller Beteiligten noch einmal an, das uns Arendt präsentiert und überlegen wir, welche Bedeutung ihre Beschreibungen und Analysen für heute haben können:

- zunächst jene Politiker der teilweise demokratischen Staaten, die, in den Kategorien des Nationalstaats gefangen, den Flüchtlingen nicht helfen konnten und dadurch zur Erosion der Nationalstaaten beitrugen. Das Flüchtlingsproblem ist kein bloßes Problem der Flüchtlinge, sondern ebenso derer, die mit ihm zu tun haben. Heute haben wir die Arendtsche Föderation Europas, aber die Flüchtlinge kommen aus außereuropäischen Ländern. Sie sind kein innereuropäisches Phänomen mehr, sondern ein globales. Angesichts dieser Gegenüberstellung von Innen und Außen, Inklusion und Exklusion, verwandelt sich die europäische Föderation in einen Nationalstaat. Die Zahl der Migranten nimmt stetig zu; sie abzuweisen wird zu einer dauerhaften und vorrangigen Aufgabe erklärt. Wie die Nationalstaaten und der Völkerbund damals bemühen sich die EU und die UNO heute, die Zahl der Flüchtlinge gering zu halten, weil sie sich für Migranten nicht zuständig halten. In einer Art Vorneverteidigung werden die Migranten an den Gräben der Festung Europa abgewehrt. Europa plant Lager in den nordafrikanischen Staaten, und auf ähnlich Weise interniert Australien Migranten auf Inseln vor der Küste. Unabhängig aber davon, ob die Lager im Innern oder außen gebaut werden und ob die Polizei zum einem Staat im Staate zu werden droht: in jedem Fall geht der weltschaffende Gedankens der Föderation zugunsten eines weltausschließenden nationalstaatlichen, administrativen Denkens verloren. Damit treten zwei Probleme auf, die für Arendt nicht nur eine vortotalitäre Gefährdung der Freiheit darstellte, sondern auch eine nachtotalitäre: erstens die Einheit von Nation und Staat, die unterschwellige Definition der bisher als unklar bedauerten europäischen Identität durch die Abgrenzung von den Fremden, den Flüchtlingen, den Armen. Die europäische Föderation wird damit unter der Hand zu einer neuen europäischen Nation, die immer, quasi per definitionem, der Versuchung unterliegt, den Staat, d.h. die Sphäre der Institutionen, der Politik und des Rechts zu erobern und den Werten der Nation und damit den Bewegungen und der Populisten zu unterwerfen. Die zweite Gefährdung besteht in der schleichenden Ersetzung von Politik durch Administration, für Arendt der Ausgangspunkt einer Bürokratisierung der Politik und damit der Etablierung der Herrschaft des Niemand sowie einer Politik der Verordnungen.

- Arendt beschrieb jene Flüchtlinge, die nicht nur vor den Verfolgern und widrigen Umständen flohen, sondern auch vor sich selber. Dasselbe geschieht heute bei den afrikanischen Migranten, die in teilweise jahrelangen Wanderbewegungen vom südlichen Westafrika bis nach Spanien unterwegs sind, von einem Land zum anderen, immer wieder aufgegriffen und zurückgeschickt, von Schleppern und Polizisten betrogen, erpresst und ausgeraubt. Der SPIEGEL-Journalist Klaus Brinkbäumer hat diese Migranten begleitet und in einem bewegenden Buch beschrieben, wie sie sich unsichtbar machen, um den Weg nach Europa zu finden. Es sind die Überflüssigen in chaotischen Gesellschaften wie Nigeria oder in zerfallenden Staaten wie Liberia und Elfenbeinküste, die als bloße menschliche Wesen den Weg antreten und hoffen, ihn lebend zu überstehen. Ihr Ziel Europa ist die Utopie, wo sie hoffen, ihre überflüssige und unsichtbare Existenz ablegen zu können.

- Schließlich bei Arendt jene Avantgarde, die aus einzelnen, nicht organisierten Paria besteht. Bei Brinkbäumer sind es „Elektroingenieure, Ärzte, Lehrer, gebildet, witzig, arbeitslos und arm, darum versuchen sie ihr Glück. Es sind selten die Alten, die gehen – es gehen die Jungen, die Kräftigen, die Phantasievollen, die Mutigen“ [17]. Arendt hat den Begriff der Avantgarde nicht weiter erläutert. Gemeinhin wie auch bei Brinkbäumer wird hervorgehoben, dass die Flüchtlinge die Flexibleren und Gebildeteren sind. Für Arendt sind es dagegen die Flüchtlinge, die „ihre Identität aufrechterhalten“. Der Begriff Avantgarde kommt zweifellos aus dem Wortgebrauch ihres Mannes, des ehemaligen Kommunisten Heinrich Blücher. Beide haben die ideologische Avantgarde durch die Avantgarde der unabhängigen Parias, der selber Denkenden ersetzt. Die bei Waldemar Gurian beschriebene Menschlichkeit ist keine schwärmerische, sondern eine existentielle der Weltlichkeit, der Verbundenheit zur Welt. Für Arendt ist diese Avantgarde unabdingbar dafür, dass die Flüchtlinge ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen. Das bedeutet auch, dass nicht Politik für die Flüchtlinge gemacht wird, sondern die Flüchtlinge selber handeln, dass Politik Angelegenheit der Bürgerinnen und Bürger selber ist.

Hier stehen sich zwei Konzepte von Politik gegenüber. Einerseits die vermeintliche Realpolitik des administrativen Flüchtlingsmanagements, die sich als Antipolitik lähmend über Europa legt und in Kategorien von Lagern, Grenzen und Gouvernementalität (Foucaultschen Bevölkerungspolitik) denkt. Diese Politik kennt nur die Planung am Schreibtisch und die Migranten als anonyme Zahlen. Ihr Irrtum besteht darin, Politik als eine Einheit von Planung, logischen Argumenten und administrativer Durchsetzung zu verstehen, als etwas, das von den einen gemacht und den anderen erlitten wird. Hier stoßen wir auf ein weiteres Problem, das Arendt für ein Grundproblem unseres Politikverständnisses seit der Antike hält, das ich hier aber nur erwähnen kann, nämlich das Problem der Herrschaft: Politik als Herrschaft der einen über die anderen, auch in der Demokratie.

Andererseits die Politik der Subjekte in der Sicht Arendts, die den politischen Raum erst durch ihr Handeln öffnen. Neues Handeln kommt dabei weniger durch die Berufspolitiker als durch jene Akteure zustande, die spontan handeln. Wenn Arendt von dem Wunder und der Spontaneität des Handelns spricht, dann geschieht das nicht aus einem romantischen Blick auf Räte und antike Polis, sondern weil sie das Potential derer kennengelernt hat, die handeln oder handeln können. Damit geht auch indirekt die Ansicht einher, dass die Rationalität politischer Planung immer begrenzt ist, dass nicht nur immer wieder spontanes Handeln entsteht, sondern dass Politik nur Teil dieses spontanen Handelns, von Überraschungen und Ereignisses ist. Das lenkt den Blick auf die Bedeutung der Demonstrationen der illegalen Einwanderer in den USA im vergangenen Jahr, auf NGOs und Flüchtlingsorganisationen.

- Die Arendtsche Perspektive nimmt also beide Seiten in den Blick, Europa und die Migranten, so wie Arendt in ihrer Zeit alle in Europa lebenden Menschen in einer gemeinsamen Welt sah. Es geht heute darum, Europa und Afrika gemeinsam zu sehen so wie auch Europa und die arabische Welt. Die Politisierung besteht darin, den Raum als einen gemeinsamen rechtlichen Rahmen sowie als einen gemeinsamen Raum des Handelns für jene zu öffnen, die als bewusste Paria und als citizen, als politische Bürgerinnen und Bürger, in unserer Welt agieren.

Teilnahmslosigkeit und Abschottung haben dabei ebensowenig einen Platz wie Toleranz, weil es nicht um ein Ertragen im wörtlichen Sinn, nicht um Duldung, geht, sondern um ein aktives Verhältnis, um einen Kosmopolitismus als, so der Schriftsteller Ian Buruma, einer bestimmten politischen Existenzweise.[18]

Es handelt sich bei den Flüchtlingen, so der polnische Schriftsteller Richard Kapuscinski, „um eine Bewegung, die nicht mehr umkehrbar ist, eine Tatsache, und darum braucht Europa eine Diskussion darüber, wie Leben in dieser Welt möglich sein wird, eine echte Debatte über unsere Kultur der Zukunft“ [19].

1. Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher, hg. von Marie Luise Knott, München/Zürich 2000, S. 228f.

2. Hannah Arendt, Statelessness, Berkeley 1955, unveröffentlicht, in: The Hannah Arendt Papers at the Library of Congress, Washington DC., memory.loc.gov/cgibin/query/P?mharendt:2:./temp/~ammem_8PYz::

3. Wir Flüchtlinge, in: Zur Zeit. Politische Essays, Berlin 1986, S. 7

4. a.a.O. S. 9f.

5. a.a.O., S. 15

6. a.a.O., S. 19f.

7. a.a.O., S. 20

8. a.a.O., S. 20

9. Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten, München/Zürich 1989, S. 323

10. a.a.O., S. 313

11. a.a.O., s. 317

12. Hannah Arendt / Kurt Blumenfeld, "... in keinem Besitz verwurzelt". Briefwechsel, Hamburg 1995, S. 52

13. Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten, S. 318

14. a.a.O., S. 321

15. a.a.O., S. 319

16. a.a.O., S. 21

17. Klaus Brinkbäumer, Der Traum vom Leben. Eine afrikanische Odyssee, Frankfurt 2006, S. 171

18. Ian Buruma, Gezelligheid genügt nicht. Wie der Multikulturalismus zu retten ist, in: F.A.Z., 07.11.2006, Nr. 259 / Seite 35

19. nach Klaus Brinkbäumer, a.a.O., S. 101

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