|
Home
|
Bibliotheken
|
Aktuelles
|
Debatte
 

 



Das Elend der Zensur: Fluchtstadt Hannover


Exemplarisch: Die Rolle des Hannah-Arendt-Stipendiums in der Artikel 19 - Tradition

von Walter Koch



I

Als Salman Rushdie im Jahre 1993 nach Straßburg ging, um die Ehrenbürgerschaft der Stadt des Europäischen Parlamentes in Empfang zu nehmen, hatte es bereits seinen japanischen und seinen norwegischen Übersetzer auf das Pflaster geschlagen. In Italien und in der Türkei waren Poeten und Dolmetscher angegriffen worden, die es gewagt hatten, die Übertragung der Satanische Verse in die Hand zu nehmen, in Ägypten bereitete man die zwangsweise Ehescheidung eines Universitätsdozenten vor, um denselben den Drohungen muslimischer Terroristen auszusetzen und in Algerien zirkulierten Todeslisten, auf denen sich Journalisten, Universitätsangehörige, Ärzte, Cineasten und Autoren wiederfanden und die später in die mörderische Tat umgesetzt wurden. Vor diesem Hintergrund unterzeichneten im Sommer 1993 über 300 Autoren aus aller Welt den Aufruf zur Gründung eines Schriftsteller-Parlamentes (International Parliament of Writers, IPW), dessen erster Präsident Rushdie wurde. Straßburg wurde zu dem Ort, an dem Salman Rushdie das Wort ergriff und für kurze Zeit die Deckung des Gejagten verließ, um dem Diskurs der Tyrannei die angemaßte Autorität zu bestreiten und um in einer bewegenden "Declaration of Independance" die Produktionsweise des Imaginären zum geschützten Territorium der "truthtellers and liars" zu erklären.

II

In einem zunächst symbolischen Akt ehrte der Rat der Stadt Straßburg das Engagement Rushdies und erklärte ihn zum Bürger der Stadt. Rushdie wiederum verlangte von derselben, sich tatsächlich zur "City of Asylum" zu wandeln. Der Autor wurde nicht nur deklaratorisch aufgenommen, die Kommune appellierte - auch über die in ihren Mauern ansässigen europäischen Institutionen – an die Städte dieses Kontinents, den bedrohten "truthtellers and liars" eine Heimstatt zu gewähren. Alle weiteren Städte in der Welt, bis hin zu Las Vegas, Weimar, Venedig oder Stavanger, folgten diesem Gründungs-Modell. Der Flüchtling wird ob seiner bedrohten artistischen Produktion in die Mitte der Stadtgesellschaft aufgenommen, ein Modell, das ab 1994 durch verschiedene Beschlüsse europäischer und internationaler Einrichtungen wie der Unesco, des Europäischen Parlamentes, des Rates der lokalen und regionalen Verwaltungen (CLRAE) bestätigt wurde und in seiner Rechtstradition zurückgeht bis auf Teilnahme-Rechte der Constitutio Agustiana des römischen Reiches von 208 oder auf das mittelalterliche "Stadtluft macht frei". Mit diesem Gründungsakt war, ohne dass es die Vertreter gegenläufiger Strömungen zur Kenntnis nahmen, am exemplarischen Fall von Wissenschaftlern und Autoren ein produktives (Asyl-)Bürgerrecht auf Zeit entstanden, das experimentell die Verkrustungen der europäischen Einwanderer-Debatte und insbesondere die damalige deutsche Asyl-Debatte unterlief und praktisch eine neuartige Verbindung von Asyl und (Meinungs- Wissenschafts- und Kunst-) Freiheit ausarbeitete.

III

Bereits 1996 versammelten sich im Straßburger Europa-Rat 24 Kommunen, welche bereit waren, ein sicheres Netzwerk von Fluchstädten zu schaffen. Bis heute umfasst dieser Zusammenschluss ca. 30 Städte und Regionen nicht nur in Europa sondern auch in Nord- und Südamerika sowie in Afrika. So wurde in mehreren Aufnahmewellen, denen jeweils Verfolgungswellen auf dem Balkan, in Tschetschenien oder in Afghanistan vorangegangen waren, über 70 Autoren und Autorinnen dem Zugriff der Bedrohung entzogen, unter vielen anderen Bei Dao (China), Tasleema Nasreen (Bangladesh), Aicha Lemsine (Algerien) und Wole Soyinka (Nigeria). Diejenigen, die in Deutschland unter Vorwänden und Polemiken im Programm "Cities of Asylum" nicht mitarbeiteten - und die Prominentesten waren Verfassungsrechtler, die die Kataloge der Grundrechte als Verfassungslyrik (Rupert Scholz) glaubten abtuen zu dürfen, die weniger Prominenten (Kultusbeamte, Bürgermeister und Journalisten, die dem Schriftsteller-Parlament vorhielten, ihre Publikationen, Treffen und Strukturen würden Geld kosten, welches den bedrohten Autoren dann nicht zum Überleben zur Verfügung steht) pflegten einen eher utilitaristischen Diskurs, welche in den Verwicklungen der 90er Jahre hierzulande ihre Wirkung nicht verfehlte. Wir, die wir in der Bundesrepublik den Straßburger Appell unterstützten, konnten bis heute lediglich vier Städte (Berlin, Frankfurt/M, Weimar und Hannover) davon überzeugen, die Anstrengungen zu unternehmen, um "City of Asylum" zu werden. Interessant bleibt die Tatsache, dass andere Städte wie Bonn, Hamburg, Bremen und Osnabrück, entweder als isolierte Eigeninitiative oder im Rahmen anderer Programme, bedrohten Autoren dann doch Zuflucht gewährten. Nach 1998 stellte die Bundesregierung ca. 300 000 Euro für das vom internatonalen PEN initiierte Programm "Writers in Exile" zur Verfügung.

IV

Alles in allem hoffnungsvolle Zeichen, die aber die Kategorien der Fremdheit, wie sie der iranische Autor Abbas Maroufi 1998 in einem offenen Brief an Günter Grass in der Zeit formulierte oder wie man sie im Fluchttagebuch Bei Daos (International Parliament of Writers, Autodafé 1, Athen, Barcelona, Mailand, New York, Paris 2000) wiederfand, nicht aufwogen. Wenn das Exil nicht eine erneute Bedrohung für die Autoren werden soll, brauchen wir weitere gastfreie Städte. Die Ausweitung des Programms "Städte der Zuflucht" nach Lateinamerika, in die USA und selbst nach Afrika kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Hoffnungen sehr vieler bedrängter und zensierter Autoren sich auf ein Exil in West- Mittel- und Nordeuropa richten. Es bleibt eine permanente Aufgabe, den Kommunen aus diesen Regionen Europas die Möglichkeit zu geben, sich über das Programm "Städte der Zuflucht" zu informieren, die Erfahrungen der Autoren und der Unterstützer zu evaluieren und im Sinne einer europäischen Real-Verfassung der (Meinung- Kunst- und Publikations-) Freiheit zum Durchbruch zu verhelfen.

V

Nur so kann man verhindern, dass Autoren, die sich nach ihrer Flucht auf das Exil in einem Land, in seinem Ortsklima einrichten mussten, um den Globus gejagt werden, ohne gewollt oder geladen zu sein. Auch wenn das Stipendium des IPW nur einen ersten Schritt bedeuten soll, geht es nicht, dass eine derart gewalttätige Form der Welterkenntnis, wie sie die Flucht darstellt, zum Dauerzustand wird. Flüchten soll durch Reisen ersetzt werden, freiwillig und ohne Angst. In diesem Sinne kann es gar nicht genügend literarische Begegnungen und Ortswechsel geben. In den kommenden Jahren brauchen wir mehr Fluchtstädte und mehr literarisch-kulturpolitische Öffentlichkeiten. Unverständlich bleibt, warum Städte wie München, Stuttgart, Köln, oder auch Leipzig und Dresden dem Straßburger Appell noch nicht gefolgt sind. Aber auch in das Engagement der deutschsprachigen Verlage hat sich eine gewisse Provinzialität eingeschlichen. Während man noch 1989 die Publikation der Satanischen Verse für den deutschsprachigen Raum durchsetzte, fehlt dieses Engagement ein Jahrzehnt später bei der Lancierung der Zeitschrift des "International Parliament of Writers": Bis heute erscheint dessen Publikation zwar in Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch, Neugriechisch und Baskisch, nicht aber auf Deutsch. Hierzulande liegt es nahe, das Kooperationsprojekt von 1989 wiederauferstehen zu lassen, diesen "Menschenrechtsverlag", der damals, aus der Not der eingeschüchterten Öffentlichkeit geboren, sein Rechtsprogramm im Namen trug (Artikel 19 Verlag).

VI

An der Seite von Anagrama, Agra, Denoel, Feltrinelli oder Seven Stories Autodafé herauszugeben, sollte für deutsche Verlage nicht unmöglich sein. Der neue Präsident des IPW, der amerikanische Romancier Russel Banks hat nach seiner Wahl auf die stummen Formen der (Selbst-)Zensur, auf die Verwertungszwänge von Literatur unter Marktbedingungen hingewiesen, er tat dies auch, um die Öffentlichkeit für den alltäglichen, allzu selbstverständlichen Skandal medialen Triumphalismus’ und medialer Marginalisierung (jenseits terroristischer Angriffe) zu sensibilisieren. Diese sachgesetzlich von Lektoren und Marketing-Abteilungen ausgeübte Regulierung bis hin zur Selbstzensur der Autoren bedarf eines doppelten Aufstandes, den der Produzenten und den der Rezipienten. Ohne Dokumentation der verletzten Menschenrechte keine moderne Literatur. Der Protest Pierre Bourdieus gegen die Mechanismen der Groß-Medien (das Fernsehen steht da nur exemplarisch für den Krieg der Informationen und Bilder) scheint mit unserem Erschrecken über das Massaker von Srebreniza und über die Schlachthäuser in der Mitidja-Ebene Algeriens wenig gemein zu haben. Und doch: Beide Formen der Exterminierung, die archaisierenden und die postmodernen als Gesamtes provozieren die menschlichen Regungen, Motivationen und Ressourcen, die wir brauchen; das Ungenügen des "westlichen Modells" und die mörderische Verletzung der Minimalstandards der Menschenrechte legen die Springquellen "unerschütterlichen Glaubens an Recht und Gesetz" frei. Nur in der Verarbeitung derartiger Doppelerfahrung entstehen neue Orte der Zivilität.

VII

Auch wenn der Iran als Staat die Fatwa von 1989 inzwischen annullierte, werden auch weiterhin die Überbringer schlechter oder unbequemer Nachrichten angeklagt, gefoltert und rechtlos dem Verderben überantwortet, so wie jüngst in Bangladesh ein Schauspieler auf offener Bühne, angeblich islamisches Recht mit seiner Darbietung verletzend, erschossen wurde, oder wie die ägyptischen Autoren, die es wagen ihre Texte ins Hebräische übersetzen zu lassen, mit dem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband, Haftstrafen und Schlimmeren rechnen müssen. Zensur aber bedeutet auch die drohende McCarthyisierung der amerikanischen Öffentlichkeit. Und doch erlauben es rasche Wandlungen in vielen Ländern das Netz der Zuflucht nachwachsen zu lassen, bis hin nach Mexiko oder Nigeria.

Alle Programme, Projekte und Kampagnen spitzen sich immer wieder zum Appell Jaques Derridas an die kosmopolitische Gesellschaft in dem Sinne zu, eine weitere Anstrengung zu unternehmen und die Mittel und das Klima zu schaffen, damit sich die Gefängnistüren Leyla Sanas (Türkei) öffnen, damit in der Ben-Barka-Affaire die Zeugen gehört werden können (Marokko/Frankreich) und damit in den Zonen des postkommunistischen Elends (Weißrussland, Ukraine, Tschetschenien), in denen die längst vorhandene Ahnung vom marktwirtschaftlichem Konfliktniveau besteht, dieses sich wandeln kann zur tatsächlichen Partizipation im Sinne eines eigenen Weges. Die neuen Grauzonen, die die offiziellen Koalitionen gegen den Terror entstehen lassen, werden uns mit neuem Elend und neuen Texten konfrontieren. Auch an uns liegt es, ob sich das Existenzrecht dieser Artikulationen und das Ihrer Produzenten realisiert.

© Hannah-Arendt-Bibliothek