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„Jeder Mensch braucht eine Heimat, eine Heimat, die Boden, Arbeit, Freude, Erholung, geistigen Fassungsraum zu einem natürlichen, wohlgeordneten Ganzen, zu einem eigenen Kosmos zusammenschließt. Die beste Definition von Heimat, das ist eine Bibliothek“. (Elias Canetti)


Am 6. Mai 2005 half uns Oskar Ansull, Mitbegründer des Hannah Arendt Stipendiums für bedrohte Autoren, dem Ort und dem Ortsgeist einen Namen zu geben. Schon lange fügen sich im hannoverschen Universitätsviertel, aber auch im Stadtteil Linden Fluchtbibliotheken (Iranische Bibliothek, Nordafrika-Bibliothek, Kurdische oder Pontisch-griechische Bibliothek) zu Räumen babylonischer Kommunikation. Diese kaum bekannten Blüten der Vielsprachigkeit wollen wir durch das Angebot eines einigenden Bandes in’s Licht der Öffentlichkeit zerren. Es geht um eine Bibliothekslandschaft, der, anders als opulenten Privat-Bibliotheken, das repräsentative Selbstvertrauen der Etablierten abhanden kam. Eine Bibliothekslandschaft, die die Aura der Durchreise und der Vergeblichkeit nicht kaschiert. Kurz, am 6. Mai 2005 haben wir eine hannoversche Hannah-Arendt-Bibliothek aus der Taufe gehoben, die vom Heimat- und Paradiesversprechen (J. L. Borges) des „Bibliothekstraumes“ nicht lassen kann. Im Folgenden dokumentieren wir einen Teil der Text-Collage, die Oscar Ansull an diesem Abend vortrug..



Bibliotheks[t]räume


Von Menschen, Bibliotheken und Büchern


Eine Lesung von Oskar Ansull (als Sololesung und für den Rundfunk eingerichtet)



[1. Sprecher]

Bibliotheken sind merkwürdige Orte. Noch die kleinste Bücherei verwandelt den empfindsamen Benutzer und läßt eine Bibliothekarin Hüterin unendlicher Schätze sein. Und es schwebt bisweilen in hitzigen Träumen „eine Bibliothek mit großen Folianten...als Gardine an seidenen Schnüren von der Zimmerdecke“ hernieder oder erscheint als eine „Bibliothek der Palmbäume“ (E.T.A. Hoffmann).
Was wir für selbstverständlich halten, ist ein gar nicht zu überschätzendes Glück, daß wir uns beim Betreten einer Bibliothek, Bücherei oder Buchhandlung vergegenwärtigen sollten, in dem Bewußtsein, daß es ja auch ganz anders sein könnte. Denn in einer Welt, wo Bücher bewahrt werden, dort werden vielleicht auch die Menschen bewahrt, was ebenfalls eine nicht selbstverständliche Schonung ist, womöglich eine letzte Illusion.

[2. Sprecher]

„Die verlorene Bibliothek“, heißt ein Buch, das die Autobiographie einer Kultur vorstellt, ein Zeitbild, eine Literaturgeschichte, eine literaturkritische und politisch-gesellschaftliche Reflexion von Walter Mehring. Als Mitglied der Dada-Bewegung und vor allem als einer der Hauptvertreter des politisch-literarischen Kabaretts, gehörte er zu den zentralen Figuren der deutschen Literatur nach dem 1. Weltkrieg.
Während des 2. Weltkrieges, in einem französischen Internierungslager und im amerikanischen Exil, setzt er sich mit dem angelesenen, geplünderten, auf zweimaliger Flucht endgültig verlorenen Büchererbe, der Bibliothek seines Vaters, des Schriftstellers und Übersetzers Sigmar Mehring auseinander.
Die vernichtete Bibliothek entsteht wieder und öffnet sich im Kopf, im Gedächtnis, diesem kleinsten Bibliotheksraum ganz nah bei den Träumen. Und so wird e i n Buch zu einer verloren gegangenen Bibliothek.

[W. Mehring]

Gewohnt habe ich zum letzten Mal wohl in Wien, bevor es stürzte. Denn dort hatte ich noch alle Bücher um mich, aus meines Vaters Bibliothek, und konnte mich zu Hause fühlen. Wie oft seitdem das Landschaftsbild im Fensterrahmen gewechselt hat – und ein paar Mal war es vergittert –, vermag ich mir nicht mehr zu vergegenwärtigen. In Wien stand noch mein Büchererbe vor seinem Fall – ins Exil gerettet dank der Komplexität der Berliner Tschechoslowakischen Gesandtschaft, dank der Kollegialität ihres Attaches, des Lyrikers Camill Hoffmann; – ihn aber hat man später in einem Brandofen vernichtet.
Überall früher, als ich noch auf Reisen ging statt auf die Flucht, hatte ich stets ein paar Bände mitgenommen – für jedes Klima. So hatte ich noch überall meines Vaters Bücher um mich gehabt, ein Stück Zuhause...
Und als ich die Bibliothek im Stich lassen, als ich Hals über Kopf aus Wien auf und davon mußte – sodomitisches Gegeifer spie mir aus jedem Gassenschlund entgegen –, als ich dem anrasenden Mob ausweichend, durchs Parkdunkel zum Westbahnhof hastete, vorbei unter dem öden Doppelfenster meines Lese-, Wohn- und Schlafzimmers, da begriff ich plötzlich den Exils-Rat der Engel an Lot: nach Sodom und Gomorrha sollte man sich nicht einmal umsehen...
Und ich wandte mich ab, um nicht zur Salzsäule zu erstarren.
Ich ließ den Schutzwall hinter mir, den einst mein Vater mir errichtet hatte – aus Tausenden von Bänden –, jeder ein Anathema seiner weißen Aufklärungsmagie, kraft der er, der fortschrittsgläubige Atheist, sich gegen die Rückfälle ins Werwolftum gefeit geglaubt hatte.
Gefangene nun, doch nicht entwaffnet, zum Schweigen nicht zu bringen, trotzten die Bücher weiter, Schulter an Schulter, widerstandsbereit – und stritten sich untereinander noch weiter über Gott und die Welt.
„Gott ist, weil meine Vernunft ihn in der Weltordnung so ansetzen muß wie die Geometer ihre Figuren...“, fingen die Cartesianer an. „Gott ist gewissermaßen aus einem Destillationsprozeß der vielen Götter entstanden...“, fiel ihnen der Materialist Friedrich Engels ins Wort, ohne ihre schwache Stelle in der Vernunftskette bemerkt zu haben.
„Gott ist ein gasförmiges Wirbeltier...“, knurrte hinter seinem darwinistischen Katheder Universitätsprofessor Ernst Haeckel (Jena), forschend, ob sich noch ein Laie einen Einwand erlauben werde.
„Das große Eiapopeia vom Himmel...“, mischte sich ungefragt der vorlauteste aller Literaten, Heinrich Heine, ein, dem mein Vater jede Ungezogenheit gestattet hatte.
Aber Stendhal dekretierte kurz und bündig: „Die einzige Entschuldigung für Gott ist, daß es ihn nicht gibt.“
„Selbst wenn...“, dröhnte die Stimme Baudelaires, „selbst wenn es Gott nicht gäbe, würde die Religion immer noch geheiligt und göttlich sein.“

Doch da ging der Tumult von allen Seiten los: “Snob! Renegat! Reaktionär!“ Und um ihn beizulegen, hatte mein Vater dann immer, zur Wut des Baudelaire, den Voltaire herbeizitiert: „’Diese Herrlichkeit kann nur ein Maulwurf geschaffen haben!’ sagte der Maulwurf. – ‚Unsinn! Ein Maikäfer!’ sagte der Maikäfer.’“
„Sic!“ hatte mein Vater an den Rand geschrieben.
„All die Bücher werden Dir einmal gehören, wenn ich tot bin“, hatte mein Vater gesagt, so oft ich mir einen Band ausleihen kam. Das also sollte mein Erbe sein.
Den letzten Besucher, den mein Vater in seiner Bibliothek empfing, war der Student und Kriegsfreiwillige Ernst Toller, der ihm ein paar schüchterne Anfängergedichte vorlegte – unterwegs zu den Schützengräben des Ersten Weltkrieges.
Eine Stunde später stürtzte mein Vater mir in die Arme, mitten im Vorlesen, mitten in einem Satz aus Kants „Kritik der reinen Vernunft“.
„Halte mich doch!“ waren seine letzten Worte. Und dann mußte ich das Erbe antreten. Ich hatte in den folgenden 20 Jahren seltener und seltener davon Gebrauch gemacht.
Auf kurzem Kommißurlaub – in entlaustem Uniformzeug, Hände an der Hosennaht – traute ich mich an die Bücher nicht mehr heran, die mir den Rücken zukehrten: dem Muschkoten. Ich gehörte nicht mehr zu ihrer Literatur. Es war das Sterbezimmer einer Epoche.

[2. Sprecher]

Die Bibliothek zieht von Berlin ins Exil nach Wien und hat dort eine Schonfrist noch etwa 20 Jahre lang. Die Kalenderblätter der Jahre 1933 bis 1938, die schwarzen, fallen, fallen bis zum bekannten Anschluß Österreichs. Und Mehring schreibt zum Ende seiner Autobiographie einer Kultur:

[W. Mehring]

Aber wo ist die Bibliothek? Beim Golem ist sie...! Der Golem hat sie geholt, in Wien – an jenem Sabbatvorabend des 12. März 1938 – und in der Josephsstadt und in Favoriten, vor der Kirche ‚Maria am Gestade’, am Ballhausplatz und der Hofburg, am ‚Gürtel’ außen und am ‚Ring’ innen – an den Cafés ‚Central’, ‚Herrenof’ und ‚Rebhuhn’ –; wo immer ich hindurch - zu ihr zurückwollte, an jeder Gossenecke, jeder Freiung, erbrach „Er“ den Auswurf aus seiner heilrülpsenden Fresse, schiß „Er“ den braunen Kot seines „Tausendjährigen Reiches“ hin.
Das ganze pantheistische, nihilistische Pandämonium: Dostojewskijs ‚Vom Teufel Besessenen’, Zolas ‚Bête Humaine’, Strindbergs ‚Inferno’ – alle ‚Stahlgewitter’, eine außer Rand und Band geratene Bücherei war los und gehorchte nicht mehr dem Buchstaben ihrer ‚Zauberlehrlinge’.
„Rette die Bücher zuerst!“ hatte die heilige Wiborada, die böhmische Schutzpatronin der Bibliotheken, dem verzagenden Abt des Stiftes Sankt Gallen beim Einfall der Magyaren zugerufen.
„Gotte schütze Österreich!“ schloß seine Radioverlautbarung der letzte Bundeskanzler des Österreichischen Christlichen Ständestaates, bevor er vor dem Antichrist abdankte, weil er mehr auf den Rundfunk als auf die Schriftsteller vertraut hatte. Und in zwei Telefon-Anfragen entschied sich mein und meiner Bücher Schicksal.
Ein Kollege – Arnold Höllriegel –, den ich in der Panik anrief, rief zurück: „Wien verloren! Die tschechische Grenze gesperrt! Retten sie sich!“
Und mein Wirt, den ich anrief, antwortete: „Sie kommen besser nicht mehr heim! Sie haben Besuch gehabt und Ihre Bibliothek hat er schon mitgenommen!“
Niemals hatte ich meine Bibliothek so leibhaft Band für Band besessen wie in diesem Augenblick des Verlustes...
Niemals, in Jahrzehnten nicht, sie so gründlich gelesen, wie ich jetzt vom Blitz getroffen sie von A bis Zett durchschaute... Niemals hatte ich mich so nach ihr gesehnt wie jetzt, da ich sie im Stich ließ, niemals ihre gedanklichen Reize, ihre formale Anmut so verführerisch empfunden wie jetzt, da ich auf und davon war in einem Schnellzug; ohne mich umzuschauen nach ihr, nach diesem Sodom und Gomorrha, nach den Geschändeten, den Erschlagenen, den von ihren Schreibtischen aus ihren Bibliotheken, aus den Caféhäusern, den Betten in die Sklaverei verschleppten Lesern.

[1. Sprecher]

Die Buchkultur, die beispielhaft in der Mehringschen Bibliothek ihren bürgerlichen Ausdruck und ihre kleinbürgerliche Vernichtung gefunden hat, entwickelte sich an der Schwelle zur Neuzeit. Im Umbruch vom Mittelalter zur Renaissance erfand, wie allgemein bekannt, Johannes Gutenberg das mechanische Vervielfältigen von Texten durch das Drucken mit beweglichen Lettern. Wenn auch Format, Papier, Type und Druckverfahren sich ändern können, so ist doch das Buch seither in sich als Instrument vollendet (solange wir Hände haben ein Buch zu halten und Augen und Verstand es zu lesen wird es Bücher geben) und es zeitigte unübersehbare Folgen: Das Buch allein hat zwar die Welt nicht verändert, aber es hat die Neuzeit in der geistigen Durchdringung der Welt zumindest mitgeformt. Und seit dem 19. Jahrhundert haben wir so etwas wie eine differenzierte Buchkultur, die sich auch in der Literatur spiegelt.

[2. Sprecher]

Da werden Menschen vom Bücherwahn ergriffen. Ein altes Kapitel der Kriminalgeschichte wird neu aufgeschlagen. Es geht nicht mehr nur um Büchernarren, Morde werden begangen, um an Bücher zu gelangen; was den damals noch nicht 15 Jahre alten Gustave Flaubert 1836 zu einer Erzählung verleitet hat. Anhand eines zeitgenössischen Berichts, schreibt er »von Menschen mit bleichen Stirnen, leeren Augen und trüben Blicken; unheimlichen bizarren Wesen ... die aber in der Nähe von Büchern wie verwandelt erscheinen. Ihre Augen blitzen, sie bewegen sich, laufen umher, hasten, vermögen kaum ihre Freude zu zügeln, platzen beinahe vor Unruhe, vor Ängsten und Schmerzen. Ansonsten seien sie verschlossen, schweigsam, scheinbar trübsinnig, von einem Gedanken nur besessen: BÜCHER! Liebe oder Leidenschaft, die Bücher verbrennen ihre Opfer innerlich, machen ihre Tage kaputt, fressen ihr Dasein auf.«

[1. Sprecher]

Doch nicht nur durch die „gebildeten Stände“ (ein Begriff, der erst um 1800 entstand) entwickelte sich die Buchkultur, auch die Nachfrage, die mit der Arbeiterbildung als Ergebnis einer nach oben orientierten Arbeiterbewegung aufkam, verlangte nach Büchern in preiswerten Ausgaben. Volksbibliotheken entstanden, die sich zu einem weitverzweigten öffentlichen Bibliothekswesen entwickelten und auch die Büchergilde Gutenberg zum Beispiel gäbe es ohne diese Entwicklung nicht. So wird das Buch selbst zunehmend Gegenstand des Schreibens, die Bibliotheken und Buchläden die Orte der Handlungen.

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© Hannah-Arendt-Bibliothek