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Debatte
 


Die Masiren auf der Schwelle zur Weltkommunikation:
Alphabetisierung, Kultur-Frühling und berberischer Medienturm


Fünf Thesen, vorgetragen am 21. April 1995 zur Eröffnung einer
Nordafrika-Ausstellung in der "Bürgerschule", Stadtteilkulturzentrum Nordstadt, Hannover

von Walter Koch


"Die Leistungskraft der Zivilisation misst sich daran, ob und wie sie die stumme Sprache der Ausgeschlossenen zu Gehör bringt." (s. u., These V)

"Dieser Kernbereich der berberischen Kultur, der allerdings durch verschiedene ehemals prestige-trächtige Kolonialsprachen wie arabisch, türkisch, französisch auf den häuslich-familiären Bereich zurück- gedrängt wurde, kann zu einer modernen Verkehrssprache transformiert werden." (Brief des Nordafrika-Vereins Tübingen an das Kulturamt der Stadt Hannover vom 28. Februar 1995)


I

3000 Jahre oder 4000 Jahre berberische Pyramide, — ob sie aus Ägypten, Agadir oder gar aus Mexiko stammt, ist nicht erforscht, kein Historiker, kein Archäologe, weder Mythologen noch Orientalisten berichten uns von einer solchen Pyramide, auch auf Philologen können wir uns nicht stützen. Es sind keine Expeditionen, keine Schatzsucher aufgebrochen, um ihr Geheimnis zu enträtseln, es ist noch nicht einmal nach ihr gefragt worden: Sie ist ein Konstrukt, ein Zeichen, eine Erfindung, sozusagen ein kultureller Willkürakt, der nicht zufällig hier in der "Bronx" Hannovers begangen wurde. Es hat mir einfach gefallen, dass sich abstürzende und aufstrebende Artikulationsformen von Kultur im Stadtteilzentrum Nordstadt begegnen. Aus derart täterischem Spiel heraus möchte ich uns alle dazu beglückwünschen, dass wir heute Abend der Enthüllung einer Phantom-Kultur beiwohnen, die sich nicht vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden sondern vor exakt 15 Jahren in der Kabylei neu artikulierte, und mit diesen 15 Jahren begannen auch einige sichere Kulturkoordinaten des Selbstverständlichen ins Wanken zu geraten: Alle, die sich gebildet und zivilisiert dünken, ob als Deutsche, als Franzosen oder auch - wie ehedem als Phönizier, Griechen, Angehörige des Imperium Romanum, Araber oder ottomanische Türken, uns allen, - wir können es nicht abstreiten - , erschien das, was wir das Barbarische, das Unverständlich-Stammelnde nannten, als von dort kommend, wohin wir Terra incognita verlegt haben, erschien das, was die marokkanischen Sultane "siba" (nicht-unterworfenes Territorium) nannten, als Barbarei , als Verörtlichung der Kulturlosigkeit, als Ödnis, als stechender Phantom-Schmerz nach der Militäroperation, unauslöschlich quälend, aber doch bedeutungslos. Dort, wo die Zivilisation ihren Phantomschmerz spürt, siedeln Menschen, die sich in einer Mischung aus Selbstbewusstsein und Selbstdemütigung ihrer Andersartigkeit nicht entledigen können (und wollen). Ihre Schwäche: sie waren schon immer da — in Nordafrika — und wurden von den jeweiligen Eindringlingen nie als diejenigen akzeptiert, die ihr Territorium verteidigten, ihr Widerstand wurde als kulturlose Wildheit dem Vergessen anheimgegeben. Ihre Rückzugsgebiete blieben in den verschiedenen nordafrikanischen Gebirgs- und Hochgebirgsgebieten bis in die späte Epoche des europäischen Kolonialismus unterworfen. Ähnliches gilt für die Rückzugsgebiete in der Sahara, dort ist noch heute unklar, ob Mali und Niger (als Nationalstaaten) die von den Tuaregs beanspruchten Gebiete wirklich kontrollieren.

Uns soll hier weniger die politikgeschichtliche, verfassungsrechtliche und aktuell machtpolitische Auseinandersetzung in Nordafrika, also die Lage der Berber in den sogenannten Maghreb-Staaten interessieren, — für eine solche Debatte ist die bundesdeutsche Öffentlichkeit einfach nicht genügend informiert. Wir bleiben als Kulturzentrum bei unserer Aufgabe der Völkerverständigung und des Kulturaustausches mit einer Einwanderergruppe, die in manchen Städten und Regionen der Bundesrepublik immerhin 8% der Wohnbevölkerung ausmacht, eine Einwanderergruppe, die als Berber für die Dialektik von Zivilisation und Barbarei das Paradigma des Negativen abgeben.

II

Nun ist es ja nicht so, als gäbe es eine saubere Trennung zwischen zivilisierten Nationen und zurückgebliebenen, barbarischen Stämmen. Die gesamte Kultur-, Kriegs- und Emanzipationsgeschichte der sog. Hochkulturen des Westens wurde auch von Berbern mitgeprägt: im Machtkampf des kaiserlichen Rom, als christliche Theologen oder als arabische Soziologen schrieben sich Berber in die Annalen der offiziellen Geschichte ein, sie waren dabei, als Spanien islamisiert wurde und sie waren ebenso dabei, als die Armeen Hitlers geschlagen wurden. Auch das ist in gewisser Weise eine Schwäche: in die missionarischen, zivilisatorischen und zerstörerischen Projekte der anderen Nationen verwickelt zu werden. Allerdings: es ist auch eine Chance, — jetzt springe ich in die von uns zu gestaltende Gegenwart — es handelt sich um die Chance, die kulturellen Erfahrungen, die bei anderen Prozessen des "nation-building" (in Palästina, in Ost-Europa, Südafrika oder Eritrea/Äthiopien) gemacht wurden, mitberücksichtigen zu können: Jeder Mangel provoziert gegenläufige Bewegungen.

Auch die Lage der Berber am Rande des weltgeschichtlichen Geschehens, ihre "Unbeschriebenheit", das Fehlen eines nordafrikanischen Mekkas, eines Zentrums, einer berberischen Hauptstadt schuf eine Attraktivität ganz eigener Art: Ihre "Rand-Lage" wurde Zivilisations-Flüchtlingen zum Asyl-Ort. Nicht nur romantische Terziomondistinnen wie Isabelle Eberhardt, Geschlecht und Glauben wechselnd, fanden den Weg nach Nordafrika; Jean Genets Unterstützung des algerischen Befreiungskrieges Ende der 6Oer Jahre war einer der zivilisatorischen Skandale, der die Ordnung von Privatem, Literarischem und Politischem in Europa ebenso erschütterten, wie das Überlaufen der amerikanischen Populär-Musik in die Ghettos der Schwarzen: Jean Genet war mit der FNL solidarisch, weil er mit Algeriern schlief, der französische Dichter ließ es die Kolonialmacht über die Medien wissen, wie die Subversion des Humanen auch beginnen kann.

Staatsgesellschaften imperial-zentralistischen Typs sind im Sinne einer föderalen Union transformierbar: man muss nur den Blick wechseln, die den Metropole verlassenden Bruch wagen. Dort aber, im selbstgewählten barbarischen Glück, im Austausch mit den Depravierten der aufgezwungenen Randexistenz bricht die Rückkoppelung mit dem "Zentrum" ersteinmal zusammen: Um sie wiederherzustellen bedarf es des rettenden Gewaltakts, bedarf es der Provokation.

Die Welt wird uninteressiert sein, - und sie war immer uninteressiert - an der nationalen Selbstbestimmung der Berber, der Igouchen, der Kurden und der Tibetaner: sicher auch deswegen, weil nach der Entkolonialisierung, nach dem Zusammenbruch der "2. Welt" (also des Sowjetischen Imperiums) genügend Staatsverbände, große und mittlere, einige auch sehr kleine, geschaffen wurden, in denen die Ausübung der Freiheit, institutionelle Demokratie, moderne Kommunikation und moderne Produktion möglich ist oder möglich gemacht werden kann. Für dieses Projekt der Demokratisierung der vorhandenen 182 Staaten steht schon die Charta der UNO. Die Welt, also nicht nur die Betroffenen, hat aber ein ganz anderes Interesse, wenn es um Folgendes geht: dass auch die zwanzig Millionen Berber in ihren eigenen Staaten (Marokko, Algerien, Mali, Niger, Tunesien) regionale Selbstbestimmung und kulturelle Autonomie ausüben können. Es ist verstehbar und kann folglich deutlich gemacht werden, dass nur so der Welt das kreative Potential dieses Volkes zur Verfügung steht. Alle brauchen das Potential dieser zwanzig Millionen "barbarischen“ Menschen und sie brauchen es nicht durch den kulturellen Filter, den die Bewältigung phönizischer, arabischer, französischer, deutscher oder amerikanischer Zivilisierungsprozesse darstellen. Die Welt braucht den originalen und tätigen Reichtum der berberischen Kultur. Der Imperativ des Zusammenhangs, der Rückkoppelung lässt sich so formulieren: Wir wünschen uns Barbaren, die zivilisationsprägend werden, Barbaren, die herausfinden, was sie nicht wissen konnten und wir wünschen uns Zivilisierte, die das, was sie überwunden haben, nicht leugnen müssen.

Gleiches gilt natürlich für alle anderen, nicht-prestigehaltigen Kulturen, für alle nicht-prestigehaltigen Sprachen, wie Aserbaidschanisch, Tigrigna, Türkisch, Urdu, ja selbst das Arabische, das früher einmal eine imperiale Weltsprache war, braucht seine populär kulturelle Revitalisierung, die allerdings ganz anders ablaufen müsste, als in den Bahnen der offizielle Kulturpolitik einiger Staaten, die, von Separatismus-Ängsten geplagt, eine totes, klerikal vermitteltes Arabisch sanktionieren. Wer die kulturellen Prozesse der Selbstvergewisserung auf Abgrenzungsprozesse vom imperialen, aber auch vom barbarischen Nachbarn reduziert, riskiert Kommunikationslosigkeit, Blockade, Unfrieden. Kulturelle Bildungsprozesse (und das haben die balkanisierenden Nationalgründer nie verstanden) sind sowohl lokale, auf das "Eigene" sich zentrierende Selbstbildungsprozesse wie gleichzeitig entgrenzende, dem Nachbarn, der Welt sich mitteilende Prozesse von Öffnung und Sympathisierung. Im Moment erleben wir es noch zu häufig, dass kulturelle Empathie verweigert wird.

III

Unser Vorschlag, Pyramiden (oder auch Tatlin-Türme) für und mit den "Barbaren" zu bauen, setzt sich sofort dem Verdacht aus, deren neo-hegemonialen, also nord-afrikanischen Vorherrschaftsgelüste zu wecken. Diese Befürchtung ist sicher auch der ethnischen Buntheit geschuldet, die nach 1989 in vielen Teilen der Welt zum Vorschein kam. Ich habe bei meinen Nordafrika-Reisen der vergangenen zehn Jahre nicht nur die unnachahmliche Arroganz der der arabischen Sprache Mächtigen gegenüber ihren berberisch sprechenden Nachbarn erlebt, ich habe auch dieses brisante Gemisch aus Verzweiflung, Hass und größenwahnsinnigen Phantasien bei berberischen Männern erlebt, die aus dem Affekt heraus ihre "Befreiung" planten: Immer wieder flackerte der Gedanke auf, "die Araber" dorthin zu exilieren, von woher sie einmal gekommen sind, in die saudische Wüste, bzw. auf die jemenitischen Terrassen. Dieser Gedanke trägt den Krieg in sich und ist absurd. Nicht absurd aber ist die kulturelle und das heißt auch pädagogische Arbeit mit den psychischen Energien, die das Symbol der Pyramide freisetzen kann und soll. Wenn die Berber (Masiren) aus ihrer Fesselung durch Islamismus, Pan-Arabismus und falschem Modernismus erst einmal heraustreten und die eigene Differenz entfalten — die heutige Veranstaltung ist neben vielen anderen Veranstaltungen zum „berberischen Frühling“ Ausdruck der Tatsache, dass das bereits in vollem Gange ist — dann müsste es, psychodynamisch gesehen, nur zu verständlich sein, dass Ohnmachtserfahrungen und Entfremdung in Allmachtswünsche und Überwältigungsphantasien umschlagen.

Auf der Schwelle der kulturellen Selbstbestimmung und der föderativen Autonomie, also in diesem Zwischenzustand von Selbstbewusstwerdung und gelungenem Kampf, können Politikformen die Oberhand gewinnen, die dem Modell der "Fedayin" entspringen. Medienpyramiden zu bauen, heißt zwar auch an der Selbstbewusstwerdung von zwanzig Millionen Menschen, der Herausbildung ihrer kulturellen Identität und ihrer politischen Selbstbestimmung zu arbeiten, es heißt aber zuallererst "die Pyramiden nicht in den Himmel wachsen zu lassen". Und nicht zu vergessen, dass andere Nationen auch ihre Bibliotheken haben, dass sie ihre kulturellen und identitätsstiftenden Orte besitzen. Die Kulturpyramide für die Berber verbildlicht in ihrer mittleren Monumentalität den Eintritt in den Kreis der selbstbewussten und alphabetisierten Nationen, — weder in assimilatorischer Demut früherer Jahrtausende noch in abgrenzendem Nationalwahn, den anderen Nordafrikanern die eigene Kultur aufzwingen zu wollen.

Vielleicht wird so deutlich, dass die Pyramide, und wir wünschen uns, dass sie überall variantenreich nachgebaut wird, eine Einladung zu selbstorganisierter Lernlust bedeutet, eine Einladung zu einer Spracharbeit, die geeignet ist, nicht nur klassische Poesie zu vermitteln, sondern auch Famour, nicht so sehr häusliche Befehle, sondern eher politische Befreiung, die Vektorrechnung, Chemie und Ökologie, also eine Sprache zu erlernen, die den Reichtum aller Menschen benennbar macht. Damit steht die nordafrikanische Kulturbewegung auch vor der Aufgabe, eine berberische Hochsprache zu schaffen. Die Standorte einer "Duden-Redaktion" sind, so wie die Bewußtwerdung nun einmal gelaufen ist, natürlich Tizi-Ouzou, Bejaja, Paris, Aix-En-Provence, Tamanrasset, Nador, Azrou und Agadir, vielleicht auch Quebec, Madrid und Frankfurt. Aber wenn mit diesen Orten die Vielfalt der dialektalen Ausprägungen der masirischen Sprache angedeutet ist, so stehen sie auch für das, was der berberische Frühling noch bringen soll: nämlich die (nicht nur computer-dominierte) Arbeit von Schriftstellern, Wissenschaftlern, Lehrern an der enzyklopädischen Ausdrucksfähigkeit der masirischen Hoch- und Schriftsprache. Vorschläge aus der kanadischen Emigration sehen anders aus als Schreibgewohnheiten aus dem Hoggar, Koran-Kommentare im Sousse verwenden einen anderen Diskurs-Typus als Hochzeitsgesänge auf Djerba. Französisch geschulte Intellektuelle wiederum gehen mit ihrer Muttersprache nicht so um wie Immigranten in Groß-Gerau.

Bei derartigem Bemühen ereignet es sich, dass das Pejorativ "Berber" durch die Selbstbezeichnung "Imasigh" (Masir) verdrängt wird. Identitätskonstituierung muss nicht als "palästinensischer Bombenanschlag" daherkommen, — ausgemacht aber ist es nicht: derartiges Bemühen könnte wiedereinmal s o zur Wirklichkeit drängen und geschichtliche Wiederholungszwänge besiegeln.

IV

Die Medienpyramide, als Idee entstanden im Auswanderermilieu Al Hoceimas und Nadors (Rif), im Modell realisiert in der Nordstadt Hannovers, soll Kulturkommunikation und Kulturvermittlung ermöglichen: im Salon des berberischen Hauses, im Café, in der Moschee, in Kulturzentren, Bibliotheken oder Akademien, sozusagen als "wissenschaftlicher Handapparat", d.h. als ein Möbel, welches lernen und forschen, lesen und schreiben erleichtert. Vielleicht ist unser Vorschlag auch deswegen hilfreich, weil er auf populäre Weise zu dem Lernchaos von

Kindern, Schülern und Erziehungspersonen bezug nimmt: Der schützende Schrank könnte sowohl auf dem Lande wie auch in den metropolitanen Immigrantenwohnungen Alphabetisierung und Schule erleichtern und stützen. Bis heute habe ich schrank-ähnliche Möbel nur als folkloristische, kleine Hängeschränke für Teegeschirr, Familienfotos, für Königs- und Rebellen-Ikonen entdeckt, aber eben fast nie Bücherregale oder Ähnliches. Andererseits sind die Wohnungen und Häuser der Berber auch in abgelegenen Herkunftsgebieten mit alten oder neuen Lern- und Kommunikationsmedien reicher ausgestattet, als es das Vorurteil will. Im Gegensatz zur häuslichen "Küchenkultur“ aber fliegt derartiges Bildungsgut mehr oder weniger ungeschützt im sieben-Personen-Haushalt herum und ist nach kurzer Zeit unauffindbar. Manche besonders anti-autoritäre oder liberale Menschen meinen vielleicht, dass dieses Chaos Ausdruck kreativer Aneignungs- und Bildungsprozesse sein könnte. Wir sehen das nüchterner: derartige Konfusion ist das Resultat und der Ausdruck des ständigen Scheiterns an bäuerlichen Realitäten (Kinderarbeit, fehlende Elektrifizierung, Mithilfe in Haus und Garten), an reformbedürftigen Ritualen der Tradition oder auch am großstädtischen Überlebenskampf.

In diesem Sinne ist die berberische Medienpyramide kein Bücherschrank, kein Computertisch und auch kein enges pädagogisches Lehrprogramm, sie fügt sich, die Begeisterung, die Allmachtswünsche sublimierend und begrenzend, in kulturelle Arbeitsprozesse verschiedener Art ein und bezeichnet ein Entwicklungsniveau vor der industriellen Normung, Organisierung, Patentierung, sie kann von dem jeweiligen Auftraggeber bzw. Handwerker individuell variiert werden. Wenn es gut geht, wird sie Ausdruck einer Schwellenerfahrung zur postmodernen Weltkommunikation, eine Schwellenerfahrung, die es den Benutzern derartiger Handwerker- und "Tüftler-Technologie" erlaubt, nicht nur einen Ghettoblaster zu deponieren, Papier, Bücher, Kassetten oder Computer sicher zu verwahren, sondern auch identifikatorisch zurückzublicken auf das Tuaregalphabet, auf das "alte Afrika". Wenn unsere Anstrengungen (im weiteren, vielfältigen Sinne) gelingen, könnten die Masiren eine Nation werden, die diese Schwelle der Befreiung überschreiten, ohne wegen ihrer Liebe zu den Schriftzeichen ihre Nachbarn, also diejenigen Nachbarn, die den heiligen Krieg ausgerufen haben und von modernen Militärstaatsapparaten im Zaum gehalten werden, mit einem anderen, dem heiligen Ethno-, Kultur- oder Nationalkrieg zu überziehen, es ließe sich vermeiden, dass sie dem balkanischen Europa folgen, das in Sarajevo das Menetekel von 1914 immer noch lodern lässt. Masire zu sein könnte in der Runde der "Vereinten Nationen" eines Tages heißen: die Pyramiden der Nathanschen Sprach-Ringe gefunden zu haben. Derart wetteifernden Austausch zwischen möglichen Universalsprachen nannte Gramsci einen 'Impuls aus Zuneigung', als er zu Beginn dieses Jahrhunderts gegen jedes europäische Kunst-Esperanto polemisierte. In seinem Sinne wünschen wir dem "Masirischen-Medien-Projekt" der Bürgerschule die Zuneigung, die aus der Vielfalt babylonischen Kulturaustausches entsteht, also die eine zivile Sprache Babylons, die als G e b ä r d e der Empathie kein Schibboleth mehr braucht, s i e wird auch heute und hier von und mit den Nordafrikanern verabredet.

V

Der Übergang zur verschriftlichten Hochsprache provoziert neue, gegenläufige Bewegungen der Barbarisierung. Zivil-Nationen, die ihren Bürgern angeblich alles bieten, Nationen, die Sicherheit, Bildungschancen, produktive Verwirklichungschancen gedeihen lassen, die aber dann doch wieder nach "Stämmen" (genauer: nach "zugeschriebenen Eigenschaften") gegliedert Alte, Kranke, Jugendliche, Proletarier, Frauen, Homosexuelle, Steuerzahler, Sozialhilfeempfänger, Hausbesetzer, kurz: Menschen-Gruppen aus ihren Integrationsleistungen herauskatapultieren, produzieren neue, nicht beherrschte Konfliktlinien.

Wie sich diese Betrogenen der Zivilisation kreativ verhalten zu den "alten", traditionsreichen Barbaren, zu den Betrogenen der Weltgeschichte, also zu denen, die "nach oben" wollen, wie sich also der offene Alkoholismus, die Anti-Psychiatrie, die off-culture, die Hausbesetzer, die Zeichen- und Graffitikultur, die Kultur der "Flugis" und Wandmalereien zu den Immigranten-Kulturen, zu den ethnisierten communities verhalten, das herauszufinden ist Aufgabe der Metropole und sei es auch die der Westentaschen-Metropole Hannover, die den Glanz von Messe und Sozialdemokratie in ihren nördlichen Vierteln bereits verloren hat, eine Metropole, die Szene-Stadtteile und Ghettos zulassen muss, Orte, in denen der Frühling anders blüht als in Bemerode und den besseren Vierteln. Der metropolitane Nordstädter Frühling setzt sich im Sinne der Reparatur von Zivilisations-Trümmern aus Projekten zusammen, unter anderen dem unsrigen Projekt: Vielleicht haben wir es ja nicht der "bemerkenswerten Rakete" von Oscar Wilde nachgebaut, welche an unpassendem Ort zu unpassender Zeit einem gar nicht vorhandenen Feuerwerk vorausleuchten wollte.

Unserer Metropole dürfen wir in aller Demut klarmachen, dass Zivilisation etwas mit "Welt-Einstellung" und "Welt-Nachbarschaft" zu tun hat und weniger mit feuerwerksartiger Aus-Stellung der Errungenschaften einer nicht-hinterfragten Zivilisation. Subversive und integrative Rückkoppelungen verbinden alle Menschen. Die Leistungskraft der Zivilisation misst sich daran, ob und wie sie die stumme Sprache der Ausgeschlossenen zu Gehör bringt. Sie sollte unser aller Projekt werden.

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