Februar 2011

Tahrir-Platz, Avenue Bourghiba, Benghazi oder:

Wohin führt bunte Literatur?

von Walter Koch

Wenn sich Bibliothekare oder Buchhändlerinnen festlesen und von aktuellen Ereignisse berühren lassen würden, anstatt anhand von Signatursystemen und Katalog-Titeln ihrer Arbeit nachgehen, gäbe es keine Buchhandlungen und keine Bibliotheken mehr, jedenfalls keine, die als Dienstleister auch tatsächlich funktionieren. Tief getroffen würden ihre Mitarbeiter auf Abwege geraten ....

Und so sollten hier im Norden die Vorgänge auf der Avenue Bourghiba oder am Tahrir-Platz die gute Ordnung von Arbeitsteilung und Fachlichkeit nicht allzu sehr stören: die Handelnden morden, die Leser lesen davon (an anderen Plätzen der Welt), die Konsumenten und die Kunden beziehen sich auf den Service derjenigen, die dank ihrer Profession das "Buch von den Untaten Gaddafis" in der Leihstelle anbieten oder es als Händler vermarkten (wurde es eigentlich bereits verfasst ?).

Und wir?

Wir, die wir die höchst professionellen Spezialisten aus ihrer Isolation, aus ihrer Hochleistungsbefangenheit lösen könnten, wie stellen wir die Frage?

Für uns ist die arabische Welt ein Terrrain der "nahen" Fremden, Menschen, denen man nach ihrer Unabhängigkeit gesagt hatte, "entwickelt Euch" ! Nun ist sie da, die beschleunigte Entwicklung, die demokratische Revolution des Herrschaftssturzes. Sie ist so beschleunigt, daß die alten Herren in der chinesischen Hauptstadt in den dort gängigen Suchmaschinen das Stichwort "Egypt" blockieren liessen ... Was aber ist das Gegenbild zum chinesischen "black-out"?

Wenn man zu den eigenen professionellen Fertigkeiten auch nur kurzzeitig Distanz gewinnt, wandeln sich diese in den tiefen Wunsch nach einem neuen Weltzustand, nach einem anderen Beziehungsgeflecht.

Wenn das bisherige Dokumentenmaterial, das ja den wirklichen Zustand der arabischen (oder auch der chinesischen) Liga nur verzerrt widergab, archiviert ist, was bleibt dann noch zu tun ? U n s hatte dieses Ausgangsmaterial schon lange irritiert (1).

Umso lebendiger erschienen soziale Netzwerke (2). Beteiligen wir uns also an einem medial gestützten Kommunikationsfeld, um unsere nordafrikanischen und nahöstlichen Freunde besser kennen zu lernen, sie in ihrem Genie, Herrschaft umzuwerfen, zu erkennen. Twitter und facebook, Internet und blogs sind, neben allem Überflüssigen, geistesgegenwärtige Bibliotheken!

Geistesgegenwart zeigt auch die neue, unzensierte Buchhandlung von Tunis, die jetzt kundige Händler mit handelnden Kunden vereint, wenn sie zur "Mittelmeerunion von unten" einlädt. Ich bin sicher, daß es nach dem Scheitern der sarkozyschen "Union der Chefs" auch der blog eines italienischer Journalisten hätte sein können (3) oder die Aufführung eines marokkanischer Regisseur aus Hannover (4), vielleicht auch die römische Kommunität Sant' Egidio (5), die die neuen Vernetzungsangebote lancieren. Oder der aktuelle Vorstitzende von Amnesty-International, der Inder Salil Shetty. I h r e Nachrichten-Arbeit bedarf, anders als die der Regierungskanzleien, ganz anderer "Bibliotheken" als es die traditionellen Institutionen der Verwaltung anbieten können (6).

Es ist wie der Moment, den die Menschen nicht vergessen wollten, der Kairos Immanuel Kants , wenn er die französischen Revolution beschwor: Der Typus von Unsicherheit, den die Ideologen der altarabischen Besonderheiten glaubten nach Bedarf jederzeit wachrufen zu können, und der das falsche aussenpolitische Einverständnis der Realpolitiker mit den Diktaturen scheinhaft legitimierte, hat sich in Hoffnung transformiert (7) , eine Hoffnung, die das Unmögliche meint: nämlich, dass die facebook-Generation ihre Brüder in den Sicherheitsapparaten vom Massenmord abhält. Natürlich, in Ägypten war es die Armee, die den neuen Texten Rückhalt verlieh.

Gerade darum aber ist es nicht mehr auszuschliessen, daß die neuen Ägypter reif genug sind, in ihrer Nachbarschaft ein arabisch-jüdische Demokratie (im Sinne eines Gesamtstaates) denkbar werden zu lassen, eine Staatenföderation, die die jüdische Demokratie ergänzt, ohne die diese an innerer Auszehrung und äusserer Bedrohung zugrunde geht (9). Es hilft Blutvergiessen zu vermeiden und Demokratien zu konstitutieren, wenn die beteiligten Einflussmächte, Zuschauer und Altkolonialisten (Chinesen, Russen, Amerikaner, Europäer) die Spuren der Informationen in ihren "Speichermedien" bewahren und - wie beim Fall des eisernen Vorhangs - Friedensbündnisse mit Parellelinstitutionen, mit den die Zukunft befragenden Einzelnen schliessen (10).

Es hängt auch von uns ab, daß das tunesische Beispiel über das iranische von 1979 obsiegt und das Beispiel des Unionsfriedens in Europa über den Nationalismus der Israelis und den der beiseite gedrängten arabischen Regime.

Die Leistung auch unserer Bibliothek misst sich in diesen Bündnissen, deren Medium wir nicht mehr "graue", sondern bunte Literatur nennen sollten: "Bunte Literatur" und ihre Datensätze (9), so begann die neue alexandrinische Bibliothek auch als Dokumentationsstätte der ersten 15000 inzwischen längst gelöschten Web-Sites! Wenn wir das Internet als "Bibliotheksinstallation" inszenieren, strukturieren wir so die Nachrichtenflut, dann, wenn sie anschwillt wie Hochwasser. Immerhin haben wir Tunesien auch in der bleiernden Zeit begleitet, "damals", als nur allzuspärliche Berichte über Folterungen nach draussen drangen.

Die sozialen Netze in ihrer Farbigkeit führen uns auf die Agora des Unabhängigkeitsplatzes . "Mare nostrum" sagten die Römer, "Lernen wir vom Medienverständnis Kathargos" sagen wir heute in Hannover, in Dschenin, Be'er Scheva, in Kairo sowieso, in Al Quds-Jerusalem, in Sanaa oder in Tripolis. 2000 Jahre Mittelmeerfeindschaft sind genug.

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(1) z. B. in der Kurden- und der Berber-Frage, vgl. http://www.ha-bib.de/bibliotheken/masiren.htm
(2) Interview mit Walter Koch: Die Suche nach der Ringparabel führt direkt in's syrische Waisenhaus, in: Schneller Magazin 1/2011, Stuttgart 2011
(3) http://fortresseurope.blogspot.com/2006/02/immigranten-die-europischen-grenzen_15.html
(4) Zur Arbeit von Abdelfettah Diouri: Cirko-Netzwerk, "I have a dream": ein marokkanisch deutsches Zirkus-Theaterstück, Hannover, Berlin 2010; http://igs-linden.de/index.php?
(5) http://www.santegidio.org/
(6) vgl.: Ein italienisches Dorf und das Wunder der Zukunft, in: Loeper, Dankwart und Angelika von (Hrsg.) Fluchtwege freihalten. Ein Kalender für das Jahr 2011 (pro asyl e.V.), S. 18 ff http://www.cittafuturariace.it/it/Attivita/Integrazione/
(7) Rama Yade, une certaine réalpolitik est mise en cause par les révolutions arabes, in: Le Monde, 17. 02. 11, S. 20
(8) Jehuda Magnes, Henrietta Szold und Hannah Arendt's Organisationsversuch war die Partei "Einheit" (Ichud, 1942), deren Ziel einer jüdisch-arabischen Föderation heute immer noch von den "Realpolitikern" behindert wird
(9) Henning Niederhoff, Trialog in Yad Vashem, Berlin Münster Zürich 2009 http://www.n-tv.de/leute/buecher/Voelkerverstaendigung-mal-anders-article833088.html
(10) Zur grauen Literatur im lebensweltlichen Kontext: http://www.ha-bib.de/bibliotheken/