Ausgewählte Neuerwerbungen 2012 / 2013


Leggewie, Claus, Zukunft im Süden. Wie die Mittelmeerunion Europa
wiederbeleben kann, Hamburg 2012


Das beginnt mit einer Nordwesteuropa, den Mittelmeerraum und Afrika südlich der Sahara verbindenden Energieunion, einer Art "Montanunion" der heutigen Zeit, die analoge Integrationswirkungen für die gesamte Region auslösen mag wie die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS alias Montanunion) in den 1950er Jahren für die Vergemeinschaftung Kerneuropas. Die Oligopole der Energieerzeugung im Norden werden damit ebenso obsolet wie die Rentenregime im Süden. Das Krisenmanagement von Bundeskanzlerin Merkel und Staatspräsident Hollande für den Süden inszeniert die Scheinalternative Totsparen oder Kaputtwachsen. Die Schuldenbremse allein stranguliert jede Initiative, die Wachstumspakete lassen jede sozialökologische Perspektive auf Nachhaltigkeit vermissen. Die oben exemplarisch genannten Bereiche Energieunion, fairer Handel, sanfter Tourismus und interkulturelle Lerngemeinschaft (weitere sind denkbar) können sich dagegen zu einem alternativen Entwicklungspfad vereinen, der dem Norden ebenfalls gut anstünde. Ein solcher "Herkules-Plan" muss einhergehen mit der Verfassungsentwicklung der gesamten EU. Nicht nur die "Problemländer" verlieren an nationaler Souveränität, auch Deutschland wird künftig ein Land des vereinten Europa sein, wie jetzt das Saarland, Nordrhein-Westfalen und der Freistaat Bayern Länder der Bundesrepublik sind. Deutschland kann auch nicht mehr, im Bunde mit Frankreich oder nicht, der Hegemon sein. Allein auf diesem emergenten Wege, im Tumult der Krise also, können eine diversifizierte europäische Gesellschaft und Öffentlichkeit, eine echte EU-Bürgerschaft und ein supranationaler Souverän entstehen, der sich auch als globaler Akteur zurückmeldet. Ein Europa, das eine politische Alternative bietet zum Rohstoffimperialismus der chinesischen Autokratie, zur ideologischen Selbstzerstörung der im Abstieg befindlichen Supermächte USA und Russland, zur desaströsen Dominanz aus dem Ruder gelaufener Finanzakteure und zur wachsenden Bedrohung durch politische Gewaltunternehmer aus gescheiterten Staaten.


Tillion, Germaine, Le harem et les cousins. Essais, Paris 1966

Un classique sur la condition féminine dans le pourtour méditerranéen. Germaine Tillion nous démontre que l'oppression des femmes, loin d'être le triste apanage de l'Islam, sévit aussi bien dans les pays chrétiens que musulmans dont aucun n'a su totalement repousser cet héritage de la préhistoire et du paganisme. Le pire est que cet asservissement ne profite à personne : l'aliénation des femmes aliène les hommes et appauvrit dramatiquement les régions où elle pèse le plus. Il aura fallu qu'une ethnologue célèbre remonte jusqu'aux origines de l'humanité, se fonde sur ses travaux scientifiques, interroge sa mémoire pour que nous soyons propulsés, incidemment, à l'avant-garde d'un féminisme jusque-là trop empêtré dans l'inventaire de ses différences pour analyser le mal commun qui frappe à la fois l'oppresseur, sa victime et la civilisation qui les porte. « Qui enlèvera la coiffure ou le mouchoir (que les femmes portent sur les cheveux); ou pour prendre l'expression vulgaire qui attachera, ou soit par des menaces publiques ou secrètes soit par toute autre violence empêchera une jeune fille ou une veuve de se marier, encourra la peine... Cette disposition se trouve dans une sorte de code qui fut promulgué sous le gouvernement de Paoli, au mois de mai 1766. A cette date on empêchait en Corse une jeune fille de se marier en découvrant ses cheveux en public, car après cet affront seul l'auteur de l'attentat pouvait épouser sans honte la femme qui en était victime. — Toutefois avant le mariage il avait grandes chances d'être assassiné par sa future belle-famille...Les analogies entre les coutumes chrétiennes et celles que l'on attribue généralement à la seule société musulmane ne se bornent pas à d'aussi anodines ressemblances […]. » (Tillion, 1966)


Sansal, Boualem u. A., Ansprachen aus Anlass der Verleihung des
Friedenspreises des deutschen Buchhandels, Frankfurt/M 2011


In seiner Dankesrede sagte Boualem Sansal, der Friedenspreis habe ihn verändert: „Ich diente unbewusst dem Frieden, nun werde ich ihm bewusst dienen, und das wird neue Fähigkeiten in mir wecken.“ Er hoffe, dass all das, was Schriftsteller und andere Kulturschaffende getan hätten, wenigstens einen winzig kleinen Beitrag zum Aufkommen des Arabischen Frühlings geleistet hätte: „Was derzeit geschieht, ist meines Erachtens nicht nur eine Jagd auf alte bornierte und harthörige Diktatoren, und es beschränkt sich nicht auf die arabischen Länder, sondern es kommt eine weltweite Veränderung auf, eine kopernikanische Revolution: Die Menschen wollen eine echte universelle Demokratie, ohne Grenzen und ohne Tabus. Alles, was das Leben ramponiert, verarmen lässt, beschränkt und denaturiert, ist dem Gewissen der Welt unerträglich geworden und wird mit aller Macht abgelehnt. (Der Spiegel, 16. 10. 2011)


Arendt, Hannah, Rede am 28. September 1959 bei der Entgegennahme des
Lessingpreises der Freien und Hansestadt Hamburg, Hamburg 1999


... und der Titel der Arendtschen Festrede ließ an diesem Kernanliegen keinen Zweifel: „Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten“. Um dieser Menschlichkeit willen ist mehr nötig als rückblickendes Verurteilen und verdrängendes Vergessen. Und der eigentliche, tiefere Verhinderungsgrund für ebendiese nicht stattgefundene Aufarbeitung des Faschismus in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit liegt, folgt man Hannah Arendts Gedankengang, im fehlenden Mut zum Denken als Weg zum Freiheitsgewinn. Ganz im Geiste Lessings ist nicht das erreichte Ziel, das gar als vorschnelle Übereinkunft abzumachen ist, der entscheidende Punkt, sondern es ist das Aufgreifen des „fermenta cognitionis“, das Lessing nach eigenem Bekunden in all seinen Schriften in diese Welt gestreut und unermüdlich propagiert hat. Und in diesem Sinne prüft Hannah Arendt die Tauglichkeit der im Begriffe der Menschlichkeit gemeinhin verwobenen Kategorien wie Mitleid, Freundschaft, Wahrheit und Wirklichkeit, entfernt aus ihrem alltagssprachlichen Verständnis das Absolute, das diese Kategorien fälschlicherweise zu eindeutigen Richtwerten für menschliches Handeln machen würde.“ (Reinhard Mocek, www.luise-berlin.de, 2001)


Wiebel, Martin (Hrsg.), Hannah Arendt, München 2012

Kein Buch der Philosophin und Publizistin Hannah Arendt hat so erbitterte Kritik erfahren und trotzdem nachhaltig "Geschichte gemacht" wie Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, 1964. 1960 hatte der Mossad den wichtigsten Organisator der "Endlösung" in Argentinien aufgespürt und nach Israel entführt, wo ihm 1961 öffentlich der Prozess gemacht wurde. 1962 wurde Eichmann hingerichtet. Die Jahre 1960-64, der Prozess und der Skandal um das Buch darüber, bilden den zeitlichen Rahmen und das thematische Zentrum des neuen Films Hannah Arendt - Ihr Denken veränderte die Welt von Margarethe von Trotta, der im Januar seinen Kinostart in Deutschland hatte. Mit Barbara Sukowa in der Rolle der Hannah Arendt und Axel Milberg als ihr Mann Heinrich Blücher setzt der Film auf die überraschende Wirkung des Massenmord-Administrators Eichmann auf die Prozessbeobachterin aus New York: Kein Monster stand da im kugelsicheren Glaskasten des Gerichtssaals, sondern ein penibler Bürokrat, ein Angestellter, der nur Weisungen befolgte, in jeder Hinsicht subaltern und banal. Als Arendt das schrieb, nahm sie den Entkommenen - und mit ihnen den Opfern - das Feindbild als Bestie, als Schlächter, und das schmerzte. Arendt aber stand die Schmähungen, den Bruch lebenslanger Freundschaften und auch die Gefährdung ihrer wissenschaftlichen Karriere mit der Festigkeit und Unbeirrbarkeit durch, die sie schon immer geprägt hatten (Lesungsankündigung Bücherhändlerkeller Berlin, 05. 02. 13)


Köpf, Peter, Die Mommsens, von 1848 bis heute - die Geschichte einer
Familie ist die Geschichte der Deutschen, Hamburg, Leipzig, Wien 2004


1948 zettelten Wilhelm und Wolfgang Mommsen, einen heftigen Streit mit ihrem Vetter Konrad an. Der hatte zusammen mit Onkel Alfred Weber die Testamentsklausel des Großvaters Theodor Mommsen veröffentlicht, in der der Nobelpreisträger erklärte, ihm fehle die Achtung vor den Deutschen. Ein Dolchstoß fast für (noch immer) national denkende Deutsche in einer Zeit, da Deutschland ohnehin keinen guten Ruf genoss. Es entwickelte sich ein Familienstreit, der die Auseinandersetzungen des gesamten deutschen Volks repräsentiert. Zentrale Frage: Wer von den Nachkommen des Nobel-preisträgers und großen liberalen Historikers Theodor Mommsen machte damals mit bei den Nazis? Eine Frage, die in der Familie bis heute umstritten ist – wie in vielen anderen deutschen Familien ebenfalls. (Verlagsmitteilung)


Knigge, Adolph Freiherr, Werke, Bd. 1-4, mit einem Essay von Sibylle
Lewitscharoff, Göttingen 2010


Adolph Freiherr Knigge (1752-1796) ist vor allem als Autor des Werkes »Über den Umgang mit Menschen« bekannt, das lange Zeit als Benimm-Fibel missverstanden wurde. Neben dieser berühmten praktischen Gesellschaftslehre verfasste er aber auch von Wieland und Sterne inspirierte Romane und publizierte zahlreiche Aufsätze und satirische Schriften, die ihn als einen der bedeutendsten Schriftsteller der Aufklärungsepoche ausweisen. Gruppiert um sein berühmtes Hauptwerk werden in dieser vierbändigen Edition die wichtigsten Texte Knigges sorgfältig kommentiert in ihrer ursprünglichen Textgestalt dargeboten. In einem einleitenden Essay stellt Sibylle Lewitscharoff Leben und Werk des gewitzten und witzigen Aufklärers, dieses »tiefen Kenners der Menschen und Bestien« (Heinrich Heine), vor: »Knigge, diesem adligen Wolf, der gehüllt in die Wolle des bürgerlichen Schafs umherging, haben wir einiges zu danken. Bedingungslos läßt sich eine wesentliche Forderung des Freiherrn propagieren: Freyheit im Denken, Forschen, Auslegen, Accomodieren!« Als Angehöriger des Adelsgeschlechts derer von Knigge führte er ursprünglich das Adelsprädikat in seinem Namen, doch war er auch Anhänger der Französischen Revolution. Als im Zuge derer die Adelsprivilegien abgeschafft wurden, verzichtete Knigge freiwillig auf das „von“, ebenso wie die meisten der späteren Generationen seines Familie.


Knigge, Adolph Freiherr, Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung
in Abyssinien, Vorwort von Asfa-Wossen Asserate, Frankfurt / M 2006


1791, die Revolution in Frankreich tritt gerade in die heiße Phase, da erscheint ein Buch des damals nicht als Manierenpapst berühmten, sondern als Radikalaufklärer berüchtigten Adolph Freiherr Knigge. Und dieses Buch hat es in sich - denn der Titelheld gelangt nach Abenteuern, die kein gutes Licht auf seine deutsche Heimat werfen, ins damals Abyssinien genannte Äthiopien. Dort hat man dem König der Könige, dem alten Negus, erzählt, welche Wunder die Aufklärung bereithält - und der hat beschlossen, sie mit Hilfe Noldmanns und dessen Neffen bei sich einzuführen. Ein Sohn des Fürsten reist mit Noldmann zurück nach Deutschland, um sich ausbilden zu lassen, und im Gegenzug werden weitere deutsche Entwicklungshelfer nach Afrika geschickt. Die philosophische Deutschlandreise scheitert an der wollüstigen Persönlichkeitsstruktur des verwöhnten Fürstensöhnchens, die Aufklärung in Abyssinien an der falschen Lenkung der Reformen. Bis es am Ende, als der verdorbene Sohn das Land regiert, beinahe zum Aufstand kommt und damit zur Abschaffung der Monarchie - und eine Nationalversammlung eine ganz neue, ideale Staatsverfassung einsetzt.


Spiegelblatt, Alexander, Medresch Itzig und Medresc Rilke (Jiddisch –
Deutsche Übersetzung von Kai Schweigmann-Grewe), Hannover 2013


Für den großen Balladendichter und Poeten der modernen jiddischen Literatur Itzik Manger sind die Personen und Geschichten des Tanach eine zentrale Quelle der Inspiration. Oft versetzt er die biblischen Protagonisten in seine Gegenwart des Bukowiner Judentums vor der Shoa. Ästhetisch auf der Höhe der europäischen Lyrik nimmt er poetische Einflüsse aus Frankreich, Rumä- nien und Deutschland auf und gewinnt den Motiven zeitgenössische Bedeutung ab. Spiegelblatt, der wohl intimste Kenner Mangers überhaupt, gibt hier einen Einblick in das Werk dieses bisher oft unzulänglich und noch immer unvoll-tändig ins Deutsche übersetzten bedeutenden Autoren der jiddischen Literatur. Bei Rilke nehmen die Texte mit biblischen Themen quantitativ einen relativ unter geordneten Platz im Gesamtwerk ein und erfahren keine Privilegierung gegenüber griechisch-antiken Stoffen. Sie bieten jedoch Rilkes eigenständige Interpretation der traditionellen Charaktere. Auch die freie Behandlung anderer jüdischer Stoffe, etwa aus der mittelalterlichen Geschichte der Prager Juden, und Rilkes Verhältnis zum Judentum und zu jüdischen Zeitgenossen wird mit Rückbezug auf Werk und Briefe differenziert dargestellt. (Verlagsmitteilung)


Straus-Ernst, Louise (Hrsg. Ulrich Krempel, Sprengel-Museum Hannover),
Nomandengut, Hannover 2000


(Diese Aufzeichnungen) Sie sind der Versuch einer eigenwilligen, stets aktiven Frau, sich schreibend ihres bisherigen Weges bewusst zu werden. Denn in dem letzten Fluchtort der Emigration, in Monosque im Süden Frankreichs, ist sie zur Passivität verdammt, bleibt ihr nur das Warten: auf das Ausreisevisum nach Amerika, um das sich der Sohn und Max Ernst bemühen, oder auf die Verhaftung, Auslieferung an die Deutschen und die Deportation in ein KZ. Das geschah 1943. Zuerst kam sie in das Lager Drancy bei Paris, wo das Passfoto aufgenommen wurde. Zum letzten Mal erscheint ihr Name am 30. Juni 1944 auf der Transportliste des vorletzten Zuges, der aus Frankreich nach Auschwitz ging. Das Sprengel Museum in Hannover (unterstützt von der Nord/LB) hat den vollständigen Text veröffentlicht - und zugleich den Maler Jimmy Ernst, der in Amerika als einer der abstrakten Expressionisten einen guten Namen hat, mit einer Ausstellung bekannt gemacht. (Peter Dittmar in: Die Welt 01. 08. 00)


Defoe, Daniel, Über Projektemacherei, Wiesbaden 1975 (Nachdruck der
Ausgabe Leipzig 1890)


„Viele Wege führen ins Unglück, notiert Daniel Defoe im Exil in Bristol 1692, wohin es ihn auf seiner Flucht vor Gläubigern verschlägt, um als möglichen Ausweg aus dieser mißlichen Lage drei Alternativen anzufügen: entweder man werde zum Selbstmörder, Verbrecher oder Projektmacher. Letztere Kategorie, für die sich Defoe längst entschieden hat, charakterisiert Meyers Großes Konversations-Lexikon von 1908 als jemanden, „der sich im Entwerfen neuer, meist unausführbarer Pläne gefällt.“ Allein das Scheitern scheint demnach das unvermeidliche Ergebnis dessen zu sein, worin diese neuen Pläne enden. Doch der Projektmacher vermag entgegen seiner denkbar schlechten Reputation eine spezifische Produktivität zu entfalten, um durch seine vermeintlich mißlingenden Innovationen dem Fortschritt zu genügen und zur Genese neuen Wissens beizutragen. Dieser ambivalenten Funktion, in Zeiten der (wirtschaftlichen) Krise durch gewagte Vorhaben und abenteuerlich anmutende Pläne als Wegbereiter der Erkenntnis zu dienen ... " (Über Projektemacherei. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns." Bauhaus-Universität, Weimar 2003)


Del Grande, Gabriele, Mamadous Fahrt in den Tod. Die Tragödie der
irregulären Migranten im Mittelmeer, Karlsruhe 2008


„Tausende und Abertausende von Toten, eine unbestimmte Anzahl von Vermissten, über die man nie mehr etwas erfahren wird.“ So charakterisiert Fulvio Vassallo Paleologo, Professor an der Universität von Palermo, die „Nebenwirkungen“ eines von Europa einseitig gegen Migranten erklärten Krieges, der die irreguläre Migration stoppen und die Einreisemöglichkeiten - auch für Asylsuchende - beenden soll. Gabriele del Grandes Buch ist ein Epitaph für die Opfer. Es ist aber gleichzeitig ein Appell an uns alle, endlich hinzusehen und die Tragödie der irregulären Migranten im Mittelmeer nicht weiter zu dulden. Denn die zahllosen Opfer und ihre Geschichte zu vergessen und sich mit dieser brutalen „Normalität“ abzufinden, hieße, sie erneut sterben zu lassen. Das Buch hat in Italien bereits innerhalb kürzester Zeit für großes Aufsehen gesorgt. (Verlagsmitteilung)


Büro für interkulturelle Projekte Stendal, Assion Lawson, Afrikanische
Messe. Requiem für die Verstorbenen an den EU Aussengrenzen, Stendal,
o. J. (ca. 2008)


Enthält zusätzlich Text- und Materialsammlungen von Missio 2008, Phoenix TV, Borderline Europe, Pro Asyl Stendal.


Menasse, Robert, Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der
Friede Europas oder: Warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften
weichen muss, Wien 2012


Dezidierter ist da schon Robert Menasse. Seine Landboten-Schrift ist Ausfluss wochenlanger Aufenthalte in Brüssel. Das Resultat ist verblüffenderweise ein Lob der Brüsseler Bürokratie, deren Protagonisten Menasse als Träger einer postnationalen Aufklärung beschreibt – kompetent ausgebildet, die Interessen Europas und nicht ihrer Herkunftsländer verfolgend. Anders als Hans Magnus Enzensberger, der in der Brüsseler Bürokratie den bevormundenden Hegemon erblickt, kann Menasse an der Normierungsarbeit der EU-Kommission nicht viel anrüchiges finden. Der Feind der Europäer seien nicht die Bürokraten, vielmehr die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten, die sich im Europäischen Rat treffen, um die nationalen Interessen der Einzelstaaten zu vertreten – und damit eine wirkliche transnationale Entwicklung behindern. „Parlament und Kommission sind die supranationalen, dem Anspruch nach wirklich europäischen Institutionen. Dazwischen hineingeschoben ist der Rat, wo Staatschefs aus Panik vor ihrer jeweiligen nationalen Wählerschaft alle vernünftigen gesamteuropäischen Lösungen torpedieren. Dieser Widerspruch zwischen nachnationaler Entwicklung und Verteidigung nationaler Interessen produziert diese Krise: So ist jedes Problem gemeinschaftlich nicht lösbar, zugleich ist die Verflechtung schon so weit fortgeschritten, dass es national auch nicht mehr lösbar ist.“ (Robert Menasse)


Cohn-Bendit, Daniel; Verhofstadt, Guy, Für Europa! Ein Manifest,
München 2012


Okay, nicht alle Versuche müssen sofort Applaus finden: „Unser Vaterland ist von jetzt an Europa. Unsere Hymne die ,Ode an die Freude‘. Und unsere Fahne zeigt zwölf Sterne auf himmelblauem Grund“, schreiben der Grüne Daniel Cohn-Bendit und der liberale Ex-Premier Belgiens Guy Verhofstadt allen Ernstes in ihrem soeben als Buch erschienenen Manifest Für Europa! Stakkato-Sätze, apokalyptischer Duktus, regelmäßig eingestreute Slogans – Verhofstadt und Cohn-Bendit nutzen Propaganda-Mittel, an deren Wirkung schon lange niemand mehr zu glauben wagte. Sie schrecken nicht einmal davor zurück, den Leser per Du aufzufordern: „Vollende, was die europäischen Pioniere einst begonnen haben.“ (Steffen Kraft, Freitag, 09. 10. 12)


Habermas, Jürgen, Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Berlin 2011

Uwe Justus Wenzel findet den utopischen Vorstoß, den Jürgen Habermas in seinem Essay zum Befinden der Europäischen Union macht, offensichtlich erfrischend, insbesondere in einer Zeit, in der sich die Politik vor allem um "Schadensbe-renzung" müht. Der Philosoph kritisiert darin nämlich nicht nur "scharfsinnig" die "intergouvernementale Aushöhlung" der Demokratie, stellt der Rezensent fest. Habermas imaginiert auch ein mögliches "transnationales demokratisches Gemeinwesen", in dem das verfassungsgebende Subjekt sowohl als Staatsbürger als auch als europäischer Bürger agiert, so Wenzel. Auch die "delikate" dialektische Argumentation des Autors, dass zwar die Nationalstaaten unabdingbar für die Europäische Union seien, allerdings die Staatsbürger als Unionsbürger sich von den "Organisationskernen der Mitgliedsstaaten" abzulösen im Begriff seien, trifft beim Rezensenten auf Interesse. Wenzel sieht Habermas Betrachtung Europas als exemplarisch für eine utopische "Weltbürgergemein-schaft" an, was er offensichtlich überaus anregend findet. (Neue Züricher Zeitung 15. 11. 11)


Hosseini, Khaled, Drachenläufer. Roman, Berlin 2003

Ein "komplexes und zugleich sehr persönliches Panorama der letzten dreißig Jahre afghanischer Geschichte" sieht Rezensent Stefan Weidner in Khaled Hosseinis Roman "Drachenläufer". Weidner charakterisiert den Roman des 1965 in Kabul geborenen, seit 1980 im amerikanischen Exil lebenden Schriftstellers als "ausgetüftelt konstruiert" und "flüssig", wenn auch etwas "konventionell" erzählt. Obgleich in der Thematik afghanisch findet Weidner seine Machart "durch und durch amerikanisch". Beim creative-writing-Seminar, so Weidner etwa mokant, hätte der Roman mit Bestnote bestanden. Weidner zeigt sich im weiteren allerdings recht beeindruckt von der verschlungenen Geschichte um den privilegierte Amir, der seinen Milchbruder Hassan, Sohn des Hausdieners, aus Eifersucht verrät, Jahre später aber die Möglichkeit der Wiedergutmachung erhält. Eine Geschichte, die man auch als "ausgedehnte Parabel" auf die jüngste Geschichte Afghanistans lesen könne. Insgesamt würdigt Weidner "Drachenläufer" als "großen Roman über den Willen zu einem versöhnlichen Neuanfang." (FAZ, 14. 11. 03)


Sansal, Boualem, Postlagernd Algier. Zorniger und hoffnungsvoller Brief
an meine Landsleute, gefolgt von: Unser Herz schlägt in Tunis, Gifkendorf
2011


Anders als viele seiner Kollegen hat sich Boualem Sansal nicht ins französische Exil abgesetzt. In seinen Tiraden bleibt er seiner Heimat treu. Bitterere Wahrheiten über die einst so stolze Republik Algerien, noch bis in die 70-er Jahre als leuchtendes Beispiel eines Landes gefeiert, das sich dem kolonialen Joch durch einen heldenhaften Krieg entrissen hatte, lassen sich nur schwerlich finden. Es ist ein Landsmann, der sie seinen Landsleuten vorhält; einer zudem, der es als wichtig erachtet hat, trotz Drohungen aller Art in seinem Land zu bleiben, statt sich in der ehemaligen Kolonialmacht zu etablieren. Boualem Sansal heißt der Autor, "Postlagernd: Algier" der schmale Band, den er im Jahr 2006 veröffentlicht hat und der nun auf Deutsch übersetzt worden ist. Der "zornige und hoffnungsvolle Brief an meine Landsleute" – so der Untertitel – ist in einer schnörkellosen, lapidaren, direkten Sprache gehalten; einer Sprache zudem, die aus jeder Zeile eine tiefe Ernüchterung verströmt. Ohne Umschweife kommt der Autor zur Sache. Das Schweigen über das, was in diesem "großen und schönen Land" wirklich geschehen ist und bis heute geschieht, diagnostiziert er als eines der größten Probleme Algeriens. "Und so kommt es, dass wir heute sind, wo wir sind", heißt es, "als Verstörte und Mittellose, Erstarrte und Verlegene, die nichts mehr zu leugnen oder zu lieben haben." Boualem Sansal geht mit Algeriens amtierenden Präsident Bouteflika hart ins Gericht. Dieses folgenschwere Schweigen und die mentalen Blockaden aller Art, die mit ihm verbunden sind, aufzubrechen, ist denn auch das erklärte Ziel des schmalen Bändchens. Dabei setzt Sansal auf eine Schocktherapie, um seinen Landsleuten die Augen zu öffnen und sie aus ihrer tiefen Lethargie aufrütteln. Gnadenlos zerpflückt er die "nationalen Konstanten" und "naturgegebenen Wahrheiten" – etwa das "Arabertum" des algerischen Volks –, unerbittlich analysiert er die Verbrechen und das Versagen der politischen Führer seit der Erlangung der Unabhängigkeit; "jener alten Krokodile, die ruhelos das Wasserloch umschleichen: mit offenem Rachen, unmenschlichem Auge, den Schwanz bereit zum Peitschenschlag". Auch "Herr Bouteflika" wird dabei in keiner Art und Weise verschont. Für Sansal ist der algerische Präsident "ein Autokrat der schlimmsten Art" ... (Beat Stauffer in www.algerien-treffpunkt.de)


Großbongardt, Annette, Pieper, Dietmar (Herausgeber), Jerusalem. Die
Geschichte einer heiligen Stadt, München 2009


Keine Stadt ist wie Jerusalem, so verehrt, so heilig und so umkämpft. Mehr als 4000 Jahre Geschichte lasten auf dieser alten Metropole des Glaubens, in der drei Religionen und zwei Völker konkurrieren – und bis heute keinen Frieden finden. Gemeinsam mit renommierten Wissenschaftlern schildern "Spiegel"-Autoren die bewegte Geschichte dieses magischen Ortes und beschreiben die Bedeutung Jerusalems als Geburtsstadt des Glaubens und Brennpunkt des Nahostkonflikts. Der eine Gott und viele Kriege haben Jerusalem zu einer Stadt gemacht, die buchstäblich weltbewegend ist. Für gläubige Juden, Christen und Muslime ist die Stadtlandschaft Jerusalems ein unvergleichlicher Ort der Heiligkeit, um den bis heute erbittert gekämpft wird. Von der Machtübernahme des biblischen Königs David über die Eroberung durch die Römer und die Kreuzzüge im Mittelalter bis zum aktuellen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern – die Feldzüge gegen Jerusalem waren immer auch Glaubenskriege, in denen die eine Religion über die andere triumphierte. Aus unterschiedlich-sten Blickwinkeln erzählen "Spiegel"-Autoren und angesehene Forscher die Geschichte dieser faszinierenden Stadt. Sie besuchen die heiligen Stätten der drei monotheistischen Weltreligionen, porträtieren berühmte Stadtherrscher und beleuchten die religiösen und machtpolitischen Ursprünge, aber auch die Mythen und Legenden, die sich um Jerusalem, den Sehnsuchtsort vieler Künstler, Pilger und Reisender, ranken. (Verlagsmitteilung)


Koch, Walter, Kopenhagen an der Elbe. Ein europäisches Stadtprojekt,
Leinebogen 4, Hannover 2012


„In ignoranter Distanz ziehen überdimensionierte Containerschiffe, England-Fähren, Airlines, aber auch die Datenströme an Glückstadt vorbei. Nur die noch im 19. Jahrhundert terrassierte Schnellzuglinie Hamburg - Westerland erreicht über einen deutlichen Umweg die Stadt. Wenn man dann, noch am Elbufer stehend, den Blick abwendet vom Himmel, vom gezeitengeprägten Strom, wenn man sich aus den virtuellen Räumen des eigenen iPad lösen kann, erschließt sich ein Idyll des 17. Jahrhunderts, eine halbgelungene Stadt, die hier in ihrer Hafenzeile an den Nyhavn von Kopenhagen erinnert ... Eine heute realisierte Stadt- und Staatsverfassung, und nichts anderes hatte Christian für seine Zeit im Sinn, legt die historisch überkommene „Souveränität“ unserer tragischen Könige und Helden in die Hände der Vielen, in die Hände derer, die erfahren, dass sie sich zu künftig ertragen können, und dies in netzvermittelter Gleichzeitigkeit und virtuell ergänztem Raum. Die Sinnstiftung des Tun und Lassens von sich aufeinander beziehenden „Einzel-enschen“ ist persönliche Freiheit, politische Freiheit aber bindet uns alle gleichermaßen. Die Erfahrung der „Könige“ von Renaissance und Industrie, ihren Freiheits- und Machtwillen können wir nur annehmen, wenn wir neubeginnen, uns sozusagen als noch nicht zum Zuge gekommene Konstituante des globalen Souveräns begreifen. Sie haben dazu beigetragen, dass „die große Menschheit“ in realer Demokratie denkbar wurde. (Mitteilung des Autors, S. 1, 22)


Tidighin, (Hrsg. Charif Adardak) Revue, No. 1/2013, Université de
Kenitra, Maroc


Traditions: De Bakchos à Bachikh, la survivance d’un culte


Brunotte, Klaus Dieter, Friede, Jürgen, Der Wasserverkäufer, Hannover
2004


20 lyrische Notate von Klaus-Dieter Brunotte und 20 Zeichnungen des Bildhauers Jürgen Friede treten in diesem Buch "in eine stille Korrespondenz zueinander, ohne sich gegenseitig erklären zu wollen. Die Zeichnungen hat Jürgen Friede im Herbst des Jahres 1999 auf einer seiner Reisen nach Marokko angefertigt. Sie sind beeinflusst von den Reiseeindrücken und den vielfältigen Begegnungen mit Menschen in einem mediterranen Land. [Klaus-Dieter Brunottes] Notate nehmen die von Friede gewählten Titel der Zeichnungen auf und erweitern dessen Titelgedanken literarisch." (Brunotte WVZ 54).


Yazbek, Samar, Schrei nach Freiheit. Bericht aus dem Inneren der
Syrischen Revolution, München 2012


„Es klingt glaubwürdig, wenn sie berichtet, wie sie tief geschockt war, als sie zum ersten Mal sah, wie Leute ermordet wurden, nur weil sie friedlich auf der Straße für Reformen protestierten. Samar Yazbek besteht auch darauf, dass der Aufstand in Syrien zunächst friedlich und rein laizistisch orientiert war. „Es ist“, sagt sie, „ein Aufstand der Armen gewesen“, dem sich nach und nach Vertreter aus allen Gruppen, Schichten und Landesteilen anschlossen. Die Befürworter des alten Regimes schätzt sie auf etwa ein Drittel der Bevölkerung. Wer das Abgleiten in Konfessions- und Bürgerkrieg verhindern wolle, müsse den Sturz Assads vorantreiben. Dieser setze auf eine Ethnisierungsstrategie, die teilweise schon verfangen habe.“ Andreas Fanizadeh, in: TAZ, 26. 03. 12


Taia, Abdellah, Der Tag des Königs, Berlin 2011

Abdellah Taïa ist 1973 in Salé, dem Nachbarort der marokkanischen Hauptstadt Rabat, geboren und hat neun Geschwister. Sein Vater war Hausmeister an der Stadtbibliothek von Rabat. In den 90er Jahren erhielt Taïa ein Stipendium an der Universität von Genf. Seit 1998 lebt er hauptsächlich in Paris. Seit 2000 publiziert er Erzählungen und Romane. Zuletzt „Der Tag des Königs“, der auf Französisch im renommierten Verlag „Seuil“ erschien. 2006 bekannte sich Taïa öffentlich in einer marokkanischen Zeitschrift zu seiner Homosexualität, was in der arabischen Welt und auch in seiner Familie als Skandal aufgenommen wurde. (http://faustkultur.de/kategorie/literatur/abdellah-taia-der-tag-des-koenigs.html#.UXpGP0rX0c8)
„Der Knabe kniet nieder und küsst die schlaffe Hand des Herrschers, er weiß, wie das geht, er hat es gelernt im Kino, von Coppolas "Godfather", und er spürt, wie sich die Angst in Ergebung, die Unterwerfung in Lust und das Begehren in etwas Unerhörtes verwandeln, während seine Lippen den königlichen Arm hinaufgleiten, wobei er nicht weiß, was ihm entsetzlicher ist: die Monstrosität des Potentaten oder das Verlangen, die Halskuhle zu erreichen, um den Geruch der Macht einatmen zu können. Frisch wie ein Frühlingswald riecht es dort. Als Omar die Liebe zu seinem König entdeckt, erwacht er. Voller Angst und völlig verwirrt. Doch die schwule Phantasie hallt in einem Schäferstündchen nach, Tage später, wenn die Jungs halbnackt durch einen Wald laufen.“ (Hans-Jost Weyandt, Der Spiegel 10. 05. 12)


Rohbeck, Johannes, Technologische Urteilskraft. Zu einer Ethik
technischen Handelns, Frankfurt/M 1993


Der wissenschaftlich-technische Fortschritt, seine Potenzen und Risiken bilden ein fruchtbares, bislang keinesfalls erschöpfend bestelltes philosophisches Arbeitsfeld. Dabei sind die Fronten seit längerem klar umrissen und argumentativ befestigt: Auf der einen Seite sind die Fortschrittsbejaher, die zwar vieles noch effektiver und alles noch sicherer machen möchten, im Grunde aber zur heutigen Entwicklung keine Alternativen sehen, auf der anderen Seite die Technikkritiker, die angesichts globaler Gefährdungen zur Umkehr aufrufen und den Menschen längst zum Anhängsel der Technik degradiert wähnen. Johannes Rohbeck, seit 1993 Philosophieprofessor an der Technischen Universität Dresden, möchte mit seinem Buch diese inhaltlich erstarrten Positionen aufbrechen und neue Akzente setzen. Der Titel verweist den kundigen Leser bereits auf ein Hauptanliegen des Autors: Die Aufnahme des Kantschen Begriffs der Urteilskraft signalisiert den Versuch, Technikphilosophie und Philosophiegeschichte miteinander zu verbinden. Dieses Unterfangen, für das Rohbeck in der Einleitung mit starken Worten gegen Unterlassungssünden der aktuellen Technikphilosophie zu Felde zieht, ist nicht unumstritten. So gilt es gewichtige Argumente zu entkräften, die wegen der neuen Qualität vieler wissenschaftlich-technischer Phänomene den Blick zurück in die Geschichte der Philosophie schlicht für überflüssig erklären. Rohbecks Buch umfaßt einen sehr umfänglichen philosophiehistorischen und einen systematischen Teil. Im ersten versucht er Zugänge zu seinen Auffassungen zu öffnen und theoretisch-begriffliche Klärungen vorzubereiten. In der gegenwärtigen Technikphilosophie sei das Programm einer "technologischen Aufklärung" herrschend. Entstehen, Entwicklung und Kontrolle technischer Phänomene würden dabei in letzter Instanz auf Entscheidungen und Handlungen der Menschen zurückgeführt. Diese Fixierung auf eine einfache Zweck-Mittel-Relation sei aber bestenfalls, so Rohbeck, eine "halbe" Aufklärung .... (Manfred Müller in: Spektrum der Wissenschaft, 01. 07. 95)


Aly, Götz, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und
Rassenhass 1800-1933, Frankfurt/M 2011


Götz Alys These von der "Geburt des Holocaust aus dem Geist des Neids" scheint Andreas Mix ein wenig zu einfach, um die große Frage nach Gründen und Ursache des Holocaust zu beantworten. Den 351 Seiten starken Essay findet Mix flüssig geschrieben und lobt dessen detaillierte Argumentation, doch statt einer historischen Sozialstudie sieht das Buch für Mix eher aus wie eine "Völkertafel" - ganz im Geist des 19. Jahrhunderts. Alys Konzentration auf Fortschrittsangst, Freiheitsunlust und das gesellschaftliche Unbehagen in der Weimarer Republik hält Mix denn auch weniger für eine Analyse des Judenhasses, als für ein Verdikt über die heutige Zeit und ihre wachsenden Globalisierungsängste. Und noch einen Kritikpunkt führt der Rezensent an: Vor lauter Analyse der großen Gesellschaftsängste verliere Aly in seiner Neiddebatte dann doch den Blick für das soziale Detail und vergisst, so Mix, "dass die jüdische Gemeinde nicht bloß aus Frankfurter Bankiers, Berliner Journalisten und Breslauer Fabrikanten bestand." (Frankfurter Rundschau, 12. 08. 11)


Sand, Shlomo, Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels
Gründungsmythos auf dem Prüfstand, Berlin 2010


Ob es sich bei Shlomo Sand um einen Unglückspropheten handelt? Dem hier rezensierenden Althistoriker Klaus Bringmann möchte es so scheinen. Den Aufruhr, den dieses Buch bereits in Israel, Frankreich, Goßbritannien und den USA entfacht hat, erklärt Bringmann zum einen mit seiner politischen Stoßrichtung. Demnach propagiert Sand eine Einstaatenlösung für Israel - oder besser Palästina - und stellt, um der Exklusivität des jüdischen Staates die Grundlage zu entziehen, eben die Existenz eines einheitlichen jüdischen Volkes in Frage. Ein "Generalangriff auf das zionistische Nationalbewusstein". Zum anderen meint Bringmann, dass Sand einfach Recht hat. Der zionistische Nationalismus entspringe der gleichen historischen Epoche wie die europäischen Nationalismen und habe sich also auch in einer ähnlichen Mischung aus mythischen, historischen und biologistischen Motiven herausgebildet. Die Berufung auf die jüdischen Stammväter entspringe dem gleichen Muster wie deutschen Mythen um die Germania oder Hermann dem Cherusker. Plausibel findet Bringmann auch Sands These, dass die Mehrheit der osteuropäischen Juden ethnisch vom Turkvolk der Chasaren abstammt, die im achten Jahrhundert geschlossen zum Judentum übergetreten seien, weswegen er dem Buch bescheinigt, "radikal, kenntnisreich und mit großem Mut" geschrieben zu sein. (www.perlentaucher.de, zur Rezension Klaus Bringmanns in der SZ


Benjamin, Walter, Engelszungen. Aphorismen und Denkbilder, Frankfurt,
Wien, Zürich 2012


Die für dieses Bändchen ausgewählten Aphorismen und Reflexionen mögen die außerge-wöhnliche Sensibilität und verblüffende (Geistes-)Gegenwärtigkeit seiner Sicht auf das Wesen der Dinge und Menschen bezeugen, die den Nomaden auf Sammlerschaft Walter Benjamin gerade heute so lesenswert machen. (Büchergilde Gutenberg, Verlagsmitteilung)


Celler Hefte Bd. 9/10 (Schriftenreihe der RWLE Möller Stiftung), Albrecht,
Thorsten; Ansull, Oskar (Hrsg.), Einladung ins Welttheater. Hannes
Razum 1904-1994, Eine Würdigung, Celle 2013


„Warum beschäftigst du dich mit dem Celler Kram?“ Mit dieser Frage wurde Oskar Ansull im fernen Berlin öfter konfrontiert. Die ewig Gestrigen mit den Meinungsmachern der Celleschen Zeitung topedierten stets das sich zu einem modernen Theater entwickelnde Celler Haus. Ansull wolle die Vergangenheit nicht schön reden, aber anderen eine Stimme geben. „Denn das Celler Publikum ist besser als ihr Ruf“ (Oskar Ansull) . Nur an ganz außerge-wöhnliche Menschen oder an solche, die im System der Massenmedien vor der Kamera gearbeitet haben, werden sich die nachfolgenden Generationen auch in 100 Jahren noch erinnern. Damit Hannes Razum und seine Lebensleistung nicht in Vergessenheit geraten, hat die Celler RWLE Möller Stiftung ihm ein Buch gewidmet. (Tagespresse)