Januar 2019 

Liebe Freundinnen, liebe Freunde der Hannah Arendt Bibliothek,

beginnen wir das Neue Jahr mit einer Literatur-Auswahl aus Schenkungen, Ankäufen und Fund-
stücken. Hannah Arendt's Bibliothek hat sich im vergangenen Jahr nicht nur baulich erneuert, sie ist auch noch ein bischen interessanter geworden (vgl. Anhänge). Diese Liste ist nicht vollständig und soll auch nur Euren eventuell aufkommenden Lesehunger stimulieren. Dass dies möglich wurde, verdanken wir vielen Beiträgern, Autoren und Spendern, herzlichen Dank !

Unseren Lesern und Gruppen ist nicht immer klar, wie wir Bestände entstehen lassen, wie sie sich aber auch dezimieren und wie dabei Themenschwerpunkte (und damit auch Kompetenzen) entstehen. Natür-lich können auch neue Sammlungen bei uns aufgebaut werden. Das wird bei unseren Neuerwerbun-
gen 2016/18 ganz besonders für die von mir angedeutete "Afrika-Bibliothek" nachvollziehbar.(http://www.haz.de/Mehr/Bilder/Galerien/2018/2/Sudanesen-protestieren-am-Weissekreuzplatz#chart=1)
(http://www.ha-bib.de/home/)

Dadurch, dass Hannover in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Organisationsversuchen west- und ostafrikanischer Immigranten erlebte, entstehen die ersten bescheidenen Handapparate in den Community-Büros (Freundeskreis Tambakounda, Dachverband Nord), bzw. als bewusste Pro-jektsammlung in der Arendt Bibliothek. Dieser Umgang mit kommenden Projekten macht das Lektorat einer weltzugewandten Bibliothek aus. Wer, wie die Jüdische Community auf eine über 2000 jährige Migrations/Exilgeschichte zurückblickt, hat in vielen Fällen das allgemeine Bild einer „öffentlichen Bibliothek" übernommen. Dieses Bild aber trifft für "nicht-institutionalisierte" Öffentlichkeiten (der zoroastrischen, jezidischen, der afrikanischen, ja selbst der pontisch-griechischen Sammlungen) nicht zu (vgl. z.B. http://www.ha-bib.de/bibliotheken/griechischebib.htm). Bibliothekarisch gilt es für diese Wachstumsprozesse Begrifflichkeiten zu entwickeln, gerade auch im Hinblick auf die Flüchtigkeit der Handapparate und Netzauftritte. Die Macher derartiger Spontanöffentlichkeiten wandeln sich zu Dokumentaristen. Als Einzelpersonen oder Kleingruppen werden sie zu Spezialisten einer oft bereits zerfallenen Protest-Kultur. Fachlich bezeichnet man sie als "one-person librarians".

Wenn es in der Mehrheitskultur überhaupt etwas Vergleichbares gibt, sind es die beruflichen Handapparate der Selbstständigen (Rechtsanwälte, Dolmetscher, niedergelassene Ärzte, Steuerberater etc.), die ihre Kunden meist vor einem kleinen Bestand von Handbüchern empfangen. Oft gehen diese Werke lokal auch wieder verloren, wenn die jeweilige Praxis/das jeweilige Büro geschlossen wird. Damit wir aber wirklich ein "Verbund vielsprachiger Bibliotheken" werden, sollten eben auch die kleinen ca. 100 bis 500 Einheiten umfassenden Sammlungen in ihrer Entstehung beobachtet und gefördert werden. Und so war die 2016 freihändig von Frank Puin und Karim Sané organisierte Veranstaltung mit Moustapha Diallo, Marianne Bechhaus-Gerst ein Schritt in die Richtung Westafrika-Bibliothek und die Anerkennung der dokumentarischen Arbeit dieser Initiativen zum Thema "Rassismus, Bilder und Sprache"
(https://m.facebook.com/Freundeskreis.Tambacounda/posts/1516727855011250).

Ich bin erstaunt, dass unsere Projektbibliotheken nun (2018/9) mit einem anderen Ereignis die grosse Öffentlichkeit suchen sollen. Es scheint nicht mehr um postkoloniale "Theoriebildung" zu gehen (wie der Abend mit Moustapha Diallo), sondern um eine filmische Ode auf New York und seine wunderbare Stadtbibliothek: Locker und liberal folgt ein erstaunliches Bündnis von „Internationalismus-Buchladen“, „Kino im Sprengel“ und „Hannah Arendt Bibliothek“ der Filmempfehung der "Zeit" vom 18. Okt. 2018: In der Planung ist "Ex Libris: The New York Public Library" von Frederick Wiseman im Frühjahr 2019 zu zeigen.
(https://www.zeit.de/2018/43/ex-libris-dokumentarfilm-frederick-wiseman-new-york/komplettansicht)
Man kann das Nordstädter Bündnis nur ermuntern und für ein zahlreiches Publikum sorgen, damit sich die staunenswerte Gross-Institution aus Amerika u. A. als europäisches Vorbild empfehlen kann..…
In N. Y. ist der "vielsprachige" Verbund bereits millionenfache Medien-Realität. Wie Kay in seiner Mail vom 21. 12. andeutete, hängt nun alles davon ab, ob wir den Film wirklich ausleihen können (Kosten) und dürfen (Aufführungsrechte). Was von den Kollegen aus New York aber bereits jetzt gelernt und diskutiert werden darf, ist ihr interkulturelles Selbstverständnis: Fast empört teilen sie uns schon im trailer mit, dass es ein vordergründiges Missverständnis gäbe: Manche dächten, eine Bibliothek sei ein "Bücherlager": Sie bestehen aber darauf "viel mehr zu sein". Ihre eigentliche Aufgabe sehen sie darin, "Menschen zu retten" .....und das hört sich so an, als sei der sich öffnende Lesesaal eine Bühne unseres Lebens (Schiffbruch, Untergang, Rettung....) .
https://www.nypl.org/locations/schwarzman

Wenn wir den Bogen von der 5th Avenue nach Hannover schlagen wollen, verweisen wir hier (als Umweg) auf eine tatsächliche afrikanische Bibliothek, auf die von den Engländern in Nairobi gegründete "Mc-Millan Bibliothek". Anders als in New York werden hier die Geschichten der heutigen Nutzer nicht erzählt. Die Kolonialmacht ist zwar seit Jahrzehnten abgezogen und die wirklich bewegende Frage, warum die jetzigen Bewohner Nairobis die Bibliothek trotzdem nutzen, verknüpfe ich mit einer weiteren Frage: was ist es denn, was die aktuellen Nutzer in der Mc-Millan Bibliothek finden, warum kommen sie ?
(http://www.taz.de/!5551487/)

Man darf diese ganz erstaunliche TAZ Reportage beim Wort nehmen. Die heutigen Nutzer finden hier, so wird es dargestellt, andere Nutzer, die genau wie sie Bedingungen suchen, um in einer geeigneten Athmosphäre an und mit ihren Smartphones und Laptops zu arbeiten, einer Athmosphäre, die es an anderen Orten der Stadt nicht gibt. Und woher kommt ihr Vertrauen, dass sie den nichtbenutzten englischen Print-Medien entgegen bringen? Sind es nicht feindliche kolonialrassistische Texte ? Wird daher ein zukünftiges Renovierungsprogramm die „alten“ Bücher dem kenianischen Flohmarkt überantworten ? Oder könnte es auf diese Weise passieren, das heutige Engländer und ehemalige Kolonisierte durch die Altbestände zum Dialog verleitet werden ?

Der communitäre Ansatz, den auch die TAZ- Reporterin aktuellen kenianischen AutorInnen entlocken "Bibliotheken müssen unsere Geschichten erzählen", könnte dann "viel mehr" leisten. Dann, wenn die Smartphone-Lerner sich wandeln, wenn sie in die Vergangenheit eintauchen, um Print-, Manuskript- und story-telling-learner zu werden. Aus Gewaltakten entstünde statt Ignoranz Literaturgeschichte. Jeder einzelne der alten Texte könnte heutigen Lesern ein anderes Bild über Kolonialisten und über frühe Autochtone zeichnen, würde man diese Bänd zum Thema machen. Gegen die Monotonie der These von der imperialen Bibliothek hilft nur der bibliothekarische Imperatif. Er lautet "Bibliotheken sollten viele Geschichten erzählen, neue und alte, und das in einer umstürzenden Mischung".

Der Pardigmenwechsel und Projektwandel, den die New Yorker Bibliothekare vorleben, würden in Hannover, aber auch in Nairobi eine etwas weniger gewaltsame Epochengleichzeitigkeit schaffen als wir es vom 20. Jahhundert gewohnt sind.
(http://www.ha-bib.de/bibliotheken/einfuehrung.html)

Euch und uns allen wünschen wir ihn, den Blickwechsel, auch im Neuen Jahr !

Walter Koch

 

Anhänge: 

I. einige Neuerwerbung der Hannah Arendt Bibliothek:

Michael Eckert aus Freiburg/Br. sandte uns die folgenden Titel zu:
- Bettina Stangneth, Böses Denken, Reinbek 2016 und
- Christopgh Fleischmann, Nehmen ist seliger als geben, Zürich 2018  

Wolfgang Heuer sorgte für den Anschluss an die französische Debatte mit  
- Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, Berin 2016 

Athanasios Karathanassis schenke 
- ders., Kapitalistische Naturverhältnisse - Begründung einer Postwachstumsökonomie, Hamburg 2015

(Fundstück) 
- Amnon Raz-Krakotzkin, Exil und Binationalismus: von Gershon Sholem und Hannah Arendt bis zu Edward Said und Mahmoud Darwish, Köln/Berlin 2011

(Fundstück Sprengelgelände)
- Wofgang Cordan, Israel und die Araber, Frankfurt/M 1954

(Rezensionsexemplar)
- Haim Goren, Jakob Eisler, Deutschland und Deutsche in Jerusalem, Jerusalem/Al Qods 2011

Walter Koch, Spende als Beitrag zu einer entstehenden Westafrika-Sammlung 
- Christian Degn, Die Schimmelmanns im atlantischen Dreieckhandel. Gewinn und Gewissen, Neumünster 1984

Spende von "ADV Nord e. V." 
- ders., Philosophie zwischen Schwarz und Weiß, Hannover 2017    

Spende des Vereins "Zeichen der Welt e. V."
- Ludwig Gerhard, Beiträge zur Kenntnis der Sprachen des Nigerianischen Plateaus, Glückstadt 1983

Ankauf Hannah Arendt Bibliothek bei Shakespeare and Company, Paris 
- Coleman Barks, The Essential Rumi, New York 2004    

Ankauf Ha-Bib 
- Leila Slimani, Dann schlafe auch Du, München 2016

(Photokopie, broschiert) 
- Elias Nasrallah Haddad, H. H. Spoer, Manual of Palestinean Arabic for self-instruction, Jerusalem 1909  

Spende Klaus Windolf 
- ders., Von der Schule in die Welt, Hannover 2011    

Ankauf Ha-Bib
- Amalia Sdroulia, Die Sprache auf die Bühne bringen, Baden Baden 2018

(Fundstück Sprengel-Gelände)
- Joyon Laycock, Kulturmanager. Neue Herausforderungen und Qualifizierung aus der Perspektive verschiedener europäischer Staaten, Oxford 2008   

Spende Heimatverband Kreis Steinburg, Steinburger Jahrbuch 2019, Itzehoe, 2018, darin: 
- Jürgen Bönig/Christian Boldt, Die Bedeutung der Buchdruckerei J. J. Augustin in Glückstadt, S. 47

(Rezensionsexemplar des Verlages) 
- Jo Leinen, Andreas Bummel, Das demokratische Weltparlament. Eine kosmopolitische Vision, Bonn 2017  

Ankauf Ha-Bib
- Lucian Kern (Hrsg.), Probleme der postindustriellen Gesellschaft, Königstein/Ts. 1984 

Veröffentlichung der Ha-Bib als Leinebögen 5/2016
- Wolfgang Heuer, Hannah Arendts politische Grammatik des Gründes, Hannover 2016

 

II. Diskussion über Provenienz und Migration

Das Kästner Museum und andere städtischen Kultureinrichtungen zeigen noch bis Mitte Juni 2019 kleine und grössere Ausstellungen zur Provenienzforschung.

https://www.hannover.de/Museum-August-Kestner/Sonderausstellungen/Spuren-der-NS-Verfolgung

„Provenienz“ ist im migratorischen Zusammenhang, an den die kuratierenden städtischen Kollegen sicher weniger gedacht haben, die genaue Umkehrung dessen, was Migranten und Flüchtlinge mit ihrer Reise anstreben. Sie wollen weniger danach gefragt werden, woher sie kommen (provenire), sondern  w o h i n  sie wollen. Ihre Provenienz wird von unseren Behörden bereits abgefragt .

Und doch gehört Beides zusammen: welche gesellschaftliche Umwelt ihnen unerträglich geworden ist und welche anderen Zustände ihnen für ein zukünftiges Leben unabdingbar erscheinen. Migranten und Flüchtlinge führen auch keine Bibliotheken mit sich, die Raubgut aus der Nazi-Zeit enthalten. Eher umgekehrt: Die New Yorker Arendt Bibliothek enthält das, was die Auswanderin vor den Nazis retten konnte. Mit ihrer Flucht aber leistete Hannah Arendt einen wichtigen Beitrag zur US amerikanischen Aufnahmegesellschaft. Insofern sollten unsere „internationalen Babylon Bibliotheken“ die Restitution geraubter oder zwangsverkaufter Sammlungen als einen zwar erforderlichen, aber beschränkten Akt, situieren.

Neben und parallel zur Restitution von Büchern an die Erben rechtmässiger Besitzer lenken alle migrantischen Sammlungen den Blick auf einen Neubeginn in Deutschland als eine gesellschaftspolitische Institution der europäischen Einwanderergesellschaft. Sie relativieren die hiesige Hegemonie der Nationalliteraturen und zeigen darüberhinaus, dass europäische Migrationskultur seit dem Ende des römischen Reichen nachweisbar ist. Bürgerrechte erringen als Zukunftsaufgabe muss die Kosmopolitisierung dieser Reche in den Blick nehmen und überschreitet so die einfache Anklage und ebenso die einfache Regulierung von früheren Verletzungen dieser Rechte.