September 2013



Deutsch-französische Gesellschaft, Hannah Arendt Bibliothek Hannover, Ev. Marktkirche, Antenne Culturelle Métropole (alle Hannover), Europäische Fraueninitiative (Paris/Berlin), Mouvement Culturelle Berbère (Frankfurt/M), Deutsch-Maghrebinische Gesellschaft (Bonn), Gesellschaft für bedrohte Völker (Göttingen)

Wandel, „combat“ und Integration

Germaine Tillion Wochen Hannover (04. 09. – 19. 10. 13)

Presse-Erklärung

Das Deutsch-französische Jahr zum Elyséevertrag 1963 geht zu Ende mit der Ehrung der Ethnologin Germaine Tillion. Das ist in einer Stadt wie Hannover überraschend! Aber so formuliert sich der Ortsgeist eben selber: Der ehrgeizige Versuch Hannovers, mit der EXPO 2000 das 21. Jahrhundert in Deutschland beginnen zulassen, ist durch Konfrontationen und Kriege mit Al-Quaida in den Hintergrund gedrängt worden. Mehr als ein Jahrzehnt nach den dem 11. September 2001 ist es ein besonderes Verdienst der am lokalen Friedensprogramm beteiligten Akteure, die Aussöhnung zwischen Franzosen und Deutschen zum Anlass für eine neuartige Öffnung der Elysée-Ideen zu machen.

Mit dem diesjährigen 50-jährigen Jubiläum der Pariser Vertäge haben einige Nicht-Regierungs-Organisationen einen Ausblick auf das 21. Jahrhundert gewagt, der die europäische „Funda-mentalehe“ zu einer „ménage à trois“ ausweitet. Föderales Denken, trialogische Beziehungen sollen sich durchsetzen und so kommt gerade Franzosen und Deutschen kulturelle Entwicklung und Staatsbildungsprozesse südlich des Mittelmeeres in den Blick. Und das auf dem Hintergrund jahrhunderte andauernder vielseitiger Feindseligkeiten!

Mit dieser außereuropäischen Perspektive scheint auch die 2008 im biblischen Alter von 100 Jahren verstorbene Ethnologin Tillion ein Ereignis (mit-)geprägt zu haben, bei dem sie uns noch immer inspiriert: „Öffnet Eure Hauptkirche und stellt mein Frühwerk aus. Ich habe es mir nach der innereuropäischen Versöhnung und der Entkolonisierung immer gewünscht, dass wir gemeinsam zu einem selbstverständlichen Umgang mit Tunesiern, Marokkanern und Algeriern kommen“.

Die Kuratoren der Germaine-Tillion-Wochen-Hannover (Michèle Brun, Gudrun Koch, Hanna Kreisel Liebermann, Walter Koch, Ghislaine Fischer) entwickeln aus der Bewältigung eines kaum bekannten deutsch-französischen Knotens (dem „débacle“ und des praktischen und literarischen Widerstands im Konzentrationslager Ravensbrück), aus der „ethnologischen“ Verarbeitung der deutschen Verbrechen durch Germaine eine neuartige „Völkerfreundschaft“ mit unseren nordafrikanischen Nachbarn.

Als Einführung wird in Hannover zunächst die brüsk unterbrochene wissenschaftliche Arbeit der jungen Forscherin gezeigt, ihr Leben unter den Chaoui-Berbern in Algerien (1936 – 1940), umfassendes Material, von dem die Nazis nur die Foto-Dokumente übrig liessen. Der nicht-kolonialer Blick Germaines auf die Afrikaner wird konsequenterweise von den Machern der Marktkirchen-Präsentation zu einer Begegnung mit den h i e r in Europa lebenden „Fremden“ transformiert, eine Begegnung mit denjenigen, deren Herkunft im Hohen Atlas, Aurès, Rif, in der Kabylei oder in den Metropolen Nordafrikas liegt und zu denen die meisten in diesem Land noch überhaupt keine Beziehungen haben.

In Frankreich dagegen stellen die Berber das Gros der Immigranten. Auch in Spanien, Belgien und den Niederlanden prägen sie das Gesicht der „banlieu“. Das Ziel der Tillion-Wochen-Hannover beschränkt sich nicht auf die Enfügung der Berber und Araber in die deutsche Gesellschaft im Sinne der Assimilationspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern nimmt in seiner selbstverständlichen Inszenierung von Begegnung, Hybridisierung und Vielfalt den tatsächlichen Weltzustand auf. Das integrative lokalen Lebensgefühl transformiert sich so zu einem neuen Typ von babylonischer Koexistenz, einer Koexistenz, die das „Gemeinsame, Integrierende“ tatsächlich auf die Werte der geltenden Verfassung beschränkt, sonst aber wildwuchsartig „Reichtum“ zulässt, ja, produktiv fördert.

Das in der Marktkirche Muslime und nordfrikanische Juden, aber auch Atheisten und Christen teilnehmen, dass ihre berberische Musik auch als religiöse Musik erklingt (am Konzert, 18. 09. 13, 20 h), dass sozusagen der revolutionäre Wandel im Blickwechsel der ehemaligen Kolonialmacht auf die Nordafrikaner ausgestellt und erlebbar wird (Vernissage, 04. 09. 13, 17 h), dass hannover-sche Schüler der inhaftierten Germaine (1942 - 45) eine Stimme verleihen und selber nicht mehr in Feindschaft aufwachsen (Lesung, 11. 09. 17 h), dass eine moderne „Berberische-Medien-Pyramide“ ausgestellt wird (ab 04. 09. 13, 17 h), und dass die zukünftigen Trialog- und Dialog- strukturen über die Mittelmeergrenzen hinweg diskutiert werden (Podium, 18. 09. 13, 17 h), macht den Reiz dieser ungewöhnlichen Kulturbegegnung aus.