März 2012

Zwischen den Epochen und zweierlei Aufklärung

Hannover "Karl Emil Franzos 1848 - 1904"
Strassbourg: "la Semi-Asie et la France"

Buchpräsentation in der Stadtbibliothek Hannover

Colloque
La Semi Asie et la France
Université Strassbourg
22.-24. mars 12



Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

Migration, Politik und Literatur erzeugen einen seltsam verwobenen Dreiklang, ein utopisches Insgesamt, das uns zu entgleiten droht.

Den Klang der Begriffe vernehmend, werden einige von uns fragen: warum nicht einfach Literatur? Und: warum nicht einfach Politik? Warum derartige Kombinationen? Ist Politik als macht- und motivgesteuerte Realität nicht schon komplex genug, so vielfältig, dass man die Literatur besser "absondert" und den wahren Kennern, Liebhabern und Autoren überlässt? Was hat das Eine mit dem Anderen zu tun?

Und, um himmelswillen: warum soll darüber hinaus noch der ganze Reisebetrieb von hoffnungsfrohen, rettungsbedürftigen bzw. veränderungssüchtigen MigrantInnen, die sich tagtäglich auf den Weg nach Irgendwo aufmachen, in′s politische System des "decision-making" einfließen, bzw. gar zur Literatur und ihrer Theorie beitragen?

Eine vielleicht interessierende Antwort auf derartig interdisziplinäre Fragen gibt ein Ereignis aus der langen Geschichte Österreichs, das nur scheinbar weit zurückliegt. Es geht um einen Initiationsritus, dem am Ende des 18. Jahrhunderts in den östlichen Teilen des habsburgischen Reiches die z. T. gerade erst eingewanderte jüdische Bevölkerung ausgesetzt war: Auf Anordnung des Reform-Kaisers Joseph II wurde ihnen die Registrierung von Familiennamen abverlangt. Dieser Akt der Verwandlung der traditionellen Genealogie (Sohn des …) der Juden in ein modernes System von Familienamen (die steuer- und militärdienstliche Verwaltung der Bevölkerung legte dies nahe) hatte für die jüdischen Migranten eine ganz andere als die von der Staatsspitze beabsichtigte Wirkung. Der Kaiser wollte die Gleichberechtigung und die gleichen Pflichten für alle durchsetzten. Anstatt aber die alten Namen behutsam (unter Berücksichtigung tatsächlicher Verwandtschaftsverhältnisse) in individuellen Namen umzuformen, entwickelten die österreichischen Beamten bei der Registrierung ihrer minoritären Untertanen eine scheußlichen Kreativität. Aus ihrer Unkenntnis des Jiddischen und des Hebräischen geriet ihnen die Umbenennung der Juden zum Akt der Bestätigung und Erneuerung der sowieso existierenden traditionellen Ausgrenzung. Jeder Name – ein neuer Akt willkürlicher Verletzung und Beleidigung!

Im Sinne kritischer moderner Literatur wurde dieser barbarische Vorgang zuerst am Ende des
19. Jahrhundert gestaltet, immerhin! Von einem in Osteuropa geborenen Sohn französischer Juden, der sowohl in Österreich als auch in Preußen publizierte und dessen Vorfahren die österreichischen Behörden den Namen "Franzos′" zugeteilt hatten. Karl Emil Franzos (Czortków 1848 – Berlin 1904), einer der interessantesten Schriftsteller des späten 19 Jahrhunderts, dessen literarisches Programm Oskar Ansull mit dem benjaminschen Begriff des "Zweigeistes" zusammenfasste. Man könnte es auch so formulieren: Franzos′ entwickelt konzeptionell eine Vorform der Interkulturalität unserer Epoche und musste am Ende seines Lebens feststellen: die Aufklärung zur Staatsgesellschaft als autoritärer Akt war ganz offensichtlich gescheitert. Zweimal gestaltete und veröffentlichte Franzos dieses Misslingen der deutsch-jüdischen Symbiose in seinem fast vergessenen Werk: "Namensstudien" (Karl Emil Franzos, Aus der großen Ebene. Kulturbilder aus Halb-Asien, Erster Band, Stuttgart1888, Zweiter Band Stuttgart, Berlin 1897) und dem Verlag "Hohes Ufer" gebührt das Verdienst eine Neuauflage gewagt zu haben.

Heute wünschen wir uns politisch mehr Europa, mehr Migrationskultur und loben die interdisziplinäre Verstrickung (oder Vernetzung?) von Laienforschung und universitärer Arbeit (Oskar Ansull, Berlin, Ariane Lüthi, Basel). Schweizer und französische Forscher haben ein Colloquium zu Juden in Halbasien und in Frankreich organisiert. Wir freuen uns, die Dimension von Migration, Politik und reflektierender Literatur in weit auseinander liegenden Veranstaltungen von europäischem Format erleben zu dürfen: In einem Colloqium der Universität Strassbourg wird der Blickwechsel der Migranten zwischen West- und Osteuropa bearbeitet, es geht auf dieser literaturwissenschaftlichen Ost-West Konferenz sozusagen um Kulturlandschaften. In Hannover und in Wennigsen dagegen werden Veranstaltungen organisiert (Stadtbibliothek, Verlag Hohes Ufer), die Oskar Ansull die Gelegenheit bieten, die katastrophalen Wirkungen der von oben durchgesetzten "modernen" Familienverhältnisse als Kritik einer autoritären Modernisierungspolitik in der franzosschen Ästhetik nachzuerleben.

Einladungen der Veranstalter (Université Strassbourg, département d′Etudes allemande, Stadtbibliothek Hannover, Verlag Hohes Ufer, Spritzenhaus Wennigsen) füge ich bei. Abschliessend als Bitte: zu diesen Veranstaltungen auch tatsächlich anzureisen bzw. "vorbeizuschauen" und sie so "zu einem Licht in der bunten Kette aller schönen Versuche" (Ansull) zu machen!


Beste Grüsse

Walter Koch


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