23.06.2008

Liebe Freundinnen, liebe Freunde der Hannah-Arendt-Bibliothek,

(1) eine der grossen Einzelgestalten des 20. Jahrhunderts war die Gaullistin Germaine Tillion, die, anders als die Mehrheit ihrer französischen Mitbürger, bereits bei der Kapitulation 1940 „gaullistisch“ reagierte und die bei uns in Deutschland erst 2004 durch die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes bekannt wurde (www.efakultur.de). Seltsamerweise war die über Neunzigjährige in Frankreich zu diesem Zeitpunkt derart bekannt, dass mitten in die Zeremonie der Ordensverleihung, zum Entsetzen des Botschaftspersonals, ganze berberische Migrantinnenvereinigungen aus den ärmeren Vierteln von Paris Zugang zur Botschaft verlangten und mit Ihren Jou-Jou-Rufen unserem Botschafter die Äußerung entlockten: „Was wollen diese Barbaren“? Es ist heute von existenzieller Bedeutung, sich mit den Kräften, die der geistigen „clochardisierung“, dem Hass und der Fremdenfeindlichkeit widerstehen, auseinander zu setzen, um die Spielarten der Modernisierung, wie sie im Maghreb und im „Greater Middle East“ gepflegt werden, kennen zu lernen. Europa hat mit Germaine Tillion eine Stimme hervorgebracht, die den „Neubeginn“ in überlebten Verhältnissen markiert, einen Neuanfang, der uns alle im Sinne von Dialog, politischer Intervention und Entwicklungskooperationen inspirieren könnte! Sie erreichte das saeculum (1907-2008), ihr hundertjähriges Leben strahlt wie ein Leitstern, der Monstrosität der eigenen Gattung entgegenzutreten. Ihr Einfluss wird auch ihre Lebenspanne überdauern und die zukünftige europäisch-afrikanische Mittelmeerunion mitprägen (www.germaine-tillion.org) . Mehr noch: Im Sinne des Exemplarischen kann das „zoon politikon“, kann die „große Menschheit“ (Norbert Elias) auf ihr kaum bekanntes Werk nicht verzichten. Wir als Bibliotheksverbund wollen, dass Germaine jetzt auch in Niedersachsen stärker wahrgenommen wird und planen für 2010, zusammen mit der Deutsch- Französischen-Gesellschaft, der Völkerkundeabteilung des Niedersächsischen Landesmuseum, der Marktkirche Hannover das Projekt „Das Ende des kolonialen Blicks“.

(2) Ein paar Bemerkungen zu den aktuellen Sommer-Herbst-Veranstaltungen 2008: Die Rosa-Luxemburg Stiftung teilt uns mit, dass Ralf Kulla die Buchvorstellung zur „verdrängten Nähe von Rosa Luxemburg und Hannah Arendt“ zunächst verschoben hat. Wir bedauern das und hoffen, dass die internen politischen Spannungen um „Freiheit“ und „Revolution“ zu einem Thema der ganzen Gesellschaft werden. Gerade, weil bei Arendt „Revolution“ verfassungsprägendes Handeln ist, und von ihr n i c h t mit der sozialen Frage verbunden wird, sehen wir in der Veranstaltungsankündigung die lobenswerte Absicht, soziale Gleichheit mit Freiheit verbinden zu wollen, allerdings hat im Sinne von Arendt inzwischen die Zivilgesellschaft die immer noch steuernden politischen Parteien mehr oder weniger ins gesellschaftliche Abseits gestellt
(http://www.forum-ds.de/article/974.freiheit_oder_gleichheit_eine_falsche_alternative.html).
Anderen Großorganisationen (wie Gewerkschaften oder Kirchen) geht es ähnlich. Hannah Arendts Politik ist die Politik der vielen pluralen Einzelnen, die in ihrem Zusammenschluss von vorne herein Freiheit ausüben! Wir hoffen, dass in Zukunft die Pluralität des politischen Handelns in’s Zentrum der Überlegungen rückt, hoffen ebenso, dass dies seine aufklärerisch-künstlerische-und solidarische Ausdrucksformen findet und dass Demokratie nicht nur die Demokratie der Mächtigen bleibt (die entsprechenden empirischen Untersuchungen über Freiwilligenarbeit belegen eindrucksvoll, dass die Menschen mehr und mehr friedens- und freiheitsfördernde Staatsformationen prägen könnten, also nicht mehr darauf angewiesen sind, derart regressiv auf UN und EU (bzw. andere großregionale Zusammenschlüsse) zu reagieren, wie dies in Frankreich oder z. Zeit in Irland der Fall ist.

Damit sind wir nun bei einer anderen parteinahen Veranstaltung, die, wenn auch verspätet, tatsächlich durchgeführt wir: Kanaan Shekho wird am Freitag 20. Juni 08 um 17 Uhr 30 in der Hannah Arendt Bibliothek (Bürgerschule) über die Lage im Irak berichten. Hierzu ist er denkbar gut ausgewiesen, hat er doch als Mitgründer der kurdischen Bibliothek Hannover, als Gast in außenpolitischen Gremien der SPD und der Sozialistischen Internationale mitgearbeitet. Außerdem übt er, zwischen Hannover und Erbil hin- und herpendelnd, das Amt des Deutschen Honorarkonsuls für die kurdische Region Iraks aus. Die Veranstaltung ist auch deswegen spannend, weil die Rosa Luxemburgstiftung hier den Versuch unternimmt, den Selbstaufklärungsprozess der (gespaltenen) westlichen Irak-Politik anhand von regionalen Einflüssen, EU- und deutschen Positionen, aber auch die amerikanische Surge-Strategie und die daraus folgende Exit-Überlegungen nachzuvollziehen und zu diskutieren, ein enormes i n n e r e s Wagnis. Der gefühlsbetonte, an abstrakter Moral ausgerichteter Anti-Amerikanismus der Friedensbewegung soll durch eine sich auf Tatsachen stützende Urteilsfähigkeit ersetzt werden, man könnte vielleicht sagen, die Rosa-Luxemburg-Stiftung will sich um politische Bildung verdient machen, eine Aufklärung, die natürlich n i c h t durch irakische politische Parteien oder durch den von Emotionen gesteuerter Anti-Baathismus der neuen dominierenden Gruppen erreicht wird, sondern in einer genauen internationalen zivilgesell- schaftlichen Kooperation beim Aufbau nachbarschaftlicher und groß-regionaler Demokratien, bei der die Dominanz des Iran und Israels, die Interventionen der Türkei und der Islamismus-Export Saudi-Arabiens am arendtschen Modell einer nah-östlichen Föderation gemessen wird. In diesem Sinne war die Verleihung des Hannah Arendt Stipendiums an einen syrischen Kurden durch die Stadt Hannover, ähnlich wie unser Eintreten für die Freiheit Faradj Sarkuhis (http://www.literaturbuero-hannover.de/lit_hannah-arendt.php) oder Shirin Ebadis (Leibniz-Ring) ein kommunikativer Umgang mit Einzelnen, ein bewusstes Zeichen der Pluralisierung nahöstlicher Politik, ohne die jedes notwendige staatliche Gewaltmonopol zum Scheitern verurteilt ist.

(3) Inzwischen kommt wohl auch unsere Arbeitsgruppe „An den Grenzen. Die Rechte der Anderen“ an den Start, will sagen, dass der „Tag des Flüchtlings“ als 2-tägiger Kongress im Hannoverschen Rathaus mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit stattfindet. Wir bitten daher, Freitag und Samstag den 26./27 September schon einmal zu reservieren, um über die Lage der Flüchtlinge in Europa und an unseren Außengrenzen zu diskutieren. Zum Einlesen: www.picum.org. Besonders interessant an diesem Kongress ist sein inhaltliches Profil zwischen Politik, Wissenschaft und medial gebrochener Einzel-Erfahrung.

(4) Auch die seit längerem vorbereitete Wanderausstellung zum Fremdsprachendruck („Bleisatz und Unicode - Zeichen der Welt“) wird, wie geplant, am 21. Oktober 2008 in der Carl-von-Ossietsky-Bibliothek Hamburg eröffnet. Die von Jörn Thiessen gut beschirmte überregionale „Druckverschwörung“ lässt in schönem Jahresrythmus die Veranstaltungen vom Stapel, so, dass zum vierhundertjährigen Stadtjubiläum (2016) J. J. Augustin als lebendiges Museum wieder die Bedeutung vorweisen kann, die die Firma einst für die Geisteswissenschaften besaß.

(5) Ein Experiment wird die „Türkische Bibliothek“ sein. Wir meinen natürlich nicht die schöne deutschsprachige Reihe des Unionsverlages, sondern wir meinen eine reale Bibliothek in unserer Stadt. Sie hat es, neben allen anderen kaum bekannten Migranten-Bibliotheken, verstanden, sich in einem hannoverschen Jungendzentrum so zu verbergen als sei ihr der Weg in die Öffentlichkeit geradezu vermint. Eine Gruppe junger Politikwissenschaftler und Studierenden möchte jetzt mit Hilfe der eigenen wissenschaftlichen Arbeiten und des türkische Medienwesens die stadträumlich-politische Bedeutung des Steintors als angeblichem „Medienviertel“ der Mehrheitsgesellschaft in Frage stellen, hierzu:

http://www.neuepresse.de
http://www.baunetz.de

(6) Abschließend möchte ich noch ganz herzlich Frau Goraschi für die großzügige Spende des persisch-sprachigen Nachlasses (1) ihres verstorbenen Mannes danken, der in unseren Räumen daran erinnert, dass nicht nur der Unterstützerkreis, das Team und die Ausstrahlung der Hannah-Arendt-Arbeit gewachsen sind, sondern der uns in seinem Umfang (250 Titel) auch an unseren Platzmangel erinnert, ein Mangel, der uns gezwungen hat, die mehr als 400 Titel umfassende Spende des Bürgermeister von Fès in Marokko ganz einfach abzulehnen. Das darf nicht wieder geschehen ...

Auch hier also die Bitte um Unterstützung, so, dass wir als Vorform eines Hauses der „Kulturen der Welt“ eine angemessene Institutionalisierung und geeignete Räume finden!

Beste Sommergrüsse,

Walter Koch