30. April 2007
es erschien uns lange Zeit unglaubwürdig, wenn jemand behauptete, dass eines der Hauptwerke der deutschen Dichtung und der Weltliteratur, "Nathan der Weise" von G. E. Lessing seit seinem Erscheinen (1779) bis auf den heutigen Tag nicht ins Arabische übertragen wurde (1).
Eine derartige Behauptung aufzustellen, war um so unsinniger, als gerade der ara-bischen Öffentlichkeit ein erheblicher Teil der deutschen Literatur, ganz gleich ob Prosa, Lyrik oder Dramatik, aus Übersetzungen bekannt ist. Es ist nicht übertrieben, wenn wir von einer lebhaften Rezeption unserer Literatur in der arabischen Welt sprechen. Von Lessing beispielsweise ist ohne Probleme "Emilia Galotti" oder "Minna von Barnhelm" zu finden, andere Autoren wie Goethe, Heine, Brecht oder Günter Grass haben längst ihre "arabischen Dolmetscher" gefunden.
Sicherlich, der Kulturaustausch könnte intensiver werden, insbesondere die Rezeption der arabischen Literatur im deutschen Sprachraum. Im Laufe der Zeit hat sich aber doch eine Wahrnehmung der jeweils anderen literarischen Welt ergeben, bis dahin, dass vor wenigen Jahren Hans Magnus Enzensberger, Durs Grünbein und Joachim Sartorius in Saana als Gäste am Kongress der arabischen Schriftsteller teilnahmen und sich endlich die Frankfurter Buchmesse der Sache annahm (2004).
Mit dem "Nathan" aber verhält es sich grundsätzlich anders. Die meisten Experten gehen davon aus, dass es nie eine Übertragung gegeben hat, Theologen, Orientalisten, Literaturhistoriker und einschlägige Forschungsstätten erklären mehr oder weniger gleichlautend, dass eine arabische Version des dramatischen Gedichts "zumindest bis 1979" (2) nicht entstanden ist. Die Ratlosigkeit der Fachwelt über die scheinbare Rezeptionsunwilligkeit geht so weit, dass Prof. Peter Bachmann (Göttingen) in Kairo eine selbst übertragene Fassung der "Ringparabel" veröffentlichte . In dem beigefügten Kommentar appelliert er an die arabische Kulturwelt, die eminente Bedeutung des Nathan nicht zu verkennen und eine Rezeption durch das Publikum zu ermöglichen (3). Darüber hinaus gab es verschiedene Mutmaßungen, warum dies bisher nicht geschehen ist, sei es, dass man meinte, ein Jude als Held auf einer arabischen Bühne sei völlig unvorstellbar, sei es, dass unterstellt wurde, Muslime stünden dem lessingschen Toleranzgedanken grundsätzlich ablehnend gegenüber. Wie dem auch sei, neuere Recherchen haben ergeben, dass im Laufe der 225 Jahre, die seit der Entstehung des lessingschen Spät-Werkes vergangen sind, zumindest eine, wenn auch möglicherweise singuläre Übertragung, veröffentlicht wurde:
Es mag ein glücklicher Zufall sein, dass es "Laien" aus dem Umfeld der Vorbereitung der hannoverschen Weltausstellung waren, die den Nathan für die Schlußphase der EXPO-2000 als arabisch-deutsch-häbräisches “Simultan-Erlebnis” öffentlich präsentieren wollten.
Deutsch-hebräische Aufführungen im Zusammenhang der Deutsch- Israelischen Kulturbegegnung hatte es schon mehrfach gegeben und gibt es immer wieder (Hamburg, Berlin; Tel Aviv). Aber konnte sich das hannoversche Projekt auf eine vorhandene arabischen Version stützen ? Gerade weil der klassische Autor in seinem Spätwerk eine "strategische Aufwertung" des Islam vornahm (4, 5), warum kam der Kulturaustausch und "die Völkerverständigung" an diesem Punkt nicht voran ? Die hannoversche Entdeckung “des dritten Ring” wurde eben nicht durch theologische oder literaturwissenschaftliche Experten ermöglicht, sondern von politisch denkenden Pädagogen, Amateurtheater- Enthusiasten und Mitarbeitern einer evangelischen Gemeinde, die vom heute nötigen Frieden in Jerusalem ausgingen und sich mit Lessing an die verborgenen “verwandtschaftlichen Bindungen” des jungen Tempelherren, Saladins und eben Nathans heranwagten.
Die Atmosphäre einer Weltausstellung auf deutschem Boden legte eine Nathan-Aufführung nahe, die neben dem Deutsch und dem Hebräisch Textpassagen von Saladin, Al Hafi oder Sittah auf arabisch enthalten sollte. Der Kirchengemeinde Wettbergen, dem theaterpädagogischen Zentrum Mühlenberg und der integrierten Gesamtschule gelang es, einen in den einschlägigen Bibliographien unauffindbaren Text zu nutzen, der merkwürdigerweise nur ein Jahr vor der Hitlers Machtergreifung in Jerusalem publiziert wurde. Sowohl die Bonner Universitätsbibliothek als auch die Berliner Staatsbibliothek sind im Besitz eines im syrischen Waisenhaus gedruckten, von Elias Nasr Al Haddad vollständig ins Arabische übertragenen "Nathan" (6).
Den hannoverschen Organisatoren Friedhelm Harms, Reinhardt Tegtmeyer-Blank und Bert Schwarz schien es für ihr Projekt ganz selbstverständlich, eine arabische Version finden zu können, ohne weiter nach der jeweiligen Enstehungs- und Rezeptionsgeschichte fragen zu müssen. Schließlich kam es ihnen darauf an, den lessingschen Toleranzgedanken gemeinsam mit israelischen, palestinensischen und deutschen Schülern zu verlebendigen, und das nicht als Ritual, sondern als erlebbare internationale Theaterarbeit (7). Das Ergebnis: nach vielen Schwierigkeiten und einer 2-jährigen Vorbereitungszeit konnte im Oktober 2000 eine umjubelte 3-sprachige Aufführung des Nathan im hannoverschen Ballhof-Theater das Licht der Welt erblicken: Jede Schülergruppe nutzte den Nathan- Text ihrer Muttersprache, um den Gedanken wechselseitigen Respekts und gegenseitiger Anerkennung auch in derartiger, gerade zu babylonischer Vielsprachigkeit zu symbolisieren: Eine enorme schauspielerische und eine exzellente Regieleistung, die, was die arabische Seite anging, auf der Basis des erwähnten Textes möglich wurde.
In diesen späten Oktober-Tagen schloß die hannoversche Weltausstellung ihre Pforten, der Vorhang des deutsch-arabisch-israelischen Theaterprojektes fiel, zeitgleich aber scheiterten die Verhandlungen in Camp David und der deutsche Regisseur des „Ballhof-Nathan“ formulierte die daraus resultierende Situation so: "Es ist schon merkwürdig an Abschied zu denken, am Montag fahren die Schauspieler und Schauspielerinnen wieder in den Krieg" (8).
Und doch haben das Theaterpädagogische Zentrum, die Kirchengemeinde Wettbergen/ Hannover und integrierte Gesamtschule Mühlenberg für unsere Tage eine Version des Nathan nicht nur als gemeinsame Theatererfahrung zwischen deutschen, arabischen und israelischen Jugendlichen verlebendigt, (eine Verlebendigung allerdings unter Polizeischutz, das muss über die Spannungen in Deutschland gesagt werden...), sie haben, wenn wir sie in ihrer Pionierleistung würdigen wollen, den Anstoß für eine internationale Debatte und für weitere Projekte gegeben, die nicht nur die zerstörten deutsch-jüdischen Kultur-Symbiose in neuem Lichte erscheinen lassen werden, sondern die Kraft lessingscher Paradoxien in die deutsch arabische Kultur-Begegnung einfließen lassen könnten.
Eine neue Lessing-Rezeption würde dem Ungeist der Negation der drei Helden: also des Tempelherren, Saladins und Nathan nach 1933 Paradigmen der Versöhnung gegenüberstellen. Da, wo Nathan über das christliche Pogrom schweigt (9), beginnt der dramatische Weg einer aufgeklärten Zivilisation. Derart bedingungsloser Aufbruch in die menschliche Freiheit, dem potentiellen Mörder meiner Anverwandten mit Parabeln in den Arm zu fallen, kann zum Unterscheidungsmerkmal einer neuen Generation werden, die in der lessingschen Schlussszene das Bild der modernen Nation erkennt. Nicht die Fernsehbilder der Selbstzerstörung braucht der Nahe Osten sondern das Findelkind, das Lessing seinem Nathan anvertraut, ein Kind, dessen primordiale Zugehörigkeit - ganz im Gegensatz zu den meisten Kindern - für seine Erziehung unwichtig wird und das Lessing in seinem Werk zum Kind der sich erkennenden und befreienden Menschen macht. Nur darum ist es, im Sinne einer 2.Aufklärung, so wichtig, dass die Sprache - und damit die dramatische Nahrung dieses Findelkindes - eine fremde Spielart des deutschen Original-Textes sein muss.
Es geht um einen Nathan, der aufwachsen läßt im Namen Aller, im Namen aller beteiligten Muslime, Christen und Juden. D a r u m hatte Nathan Recha zu “seinem” Kinde gemacht. Heute stellt sich die Frage der aufgeklärten Fremdheit so: Wie und in welcher Sprache begegnen w i r Recha ? Das ist die Kultur-Frage des Nahen Ostens und je nach der Welthaltigkeit unserer nährenden Worte, Zeichen und Riten wird das Neugeborene sich bei Saladin, bei Nathan und beim Tempelherrn „zu Hause fühlen“, wird es die Versöhnung von Partikularität und Universalität dort finden, wo sie ästhetisch und politisch gelebt wird.
Heute glimmt eben diese Hoffnung: Recha könnte sich den absurden Legitimationen „rechtmäßiger“ Rächer entziehen, entfremden. So wie es der wiedergefundene dreisprachige Lessing in Hannover spüren ließ, meint Lessing die freie, in Fremdheit aufgewachsene Frau, die n i e m a n d e n aus der monotheistischen „Familie“ heiraten wird. Der in der verbrüdernde Schlussszene abseits stehende Nathan ist auch ihr Modell der Individuierung. Die „Hochzeit“, also die zivilisierte Leidenschaft, ist noch weit, sie könnte etwas mit der ästhetischen Verführungskraft sublimer Lessing-Texte zu tun haben.
Die Ballhof-Aufführung und die sich aus ihr ergebenden interreligösen und interkultu-rellen Fragen markieren den Wendepunkt der Rezeptionsgeschichte. Eine Geschichte, die im Kontext der Folgen des 11. September zu einer veränderten deutschen Kulturpolitik beitrugen, und die es uns heute erlaubt, den Wunsch Peter Bachmanns an die arabische Öffentlichkeit im Medium n e u e r Übersetzungen, neuer Inszenierungen und anderer, das Mittelmeer übergreifender Dialoge zu gestalten (10).
Beste Grüße,
Walter Koch
(1) Lessing-Bibliographie, bearbeitet von Siegfried Seifert, Berlin, Weimar 1973 Doris Kuhles, Lessing-Bibliographie 1971-1985, Berlin, Weimar 1988
(2) Auskunft Prof. Niewöhner, Wolfenbüttel , Brief an den Verfasser vom 25. 06. 99
(3) Bachmann, Peter, Gotthold Ephraim Lessing und die Geschichte von den drei Ringen. Bemerkungen zur Rolle des arabisch-islamischen Orients im Werk des deutschen Dichters, Kairo 1984 / 1404
(4) Kuschel, Karl Josef, Vom Streit zum Wettstreit der Religionen. Lessing und die Herausforderung des Islam, Düsseldorf 1998 (5) Ders. Jud, Christ und Muselmann vereinigt? Lessings Nathan der Weise. Düsseldorf 2004
(6) G. E. Lessing, Nathan der Weise, arabische Übertragung von Nasr Al Haddad, Jerusalem (Al Qods) 1932
(7) Mühlenberger Werkstatt-Berichte, (hrsg. von: Evangelisch-lutherische Kirchengemeinde Hannover-Wettbergen) Bd. 3, Dokumentation des Theaterprojektes „Nathan der Weise“, o. O., o. J. .
(8) Hannoversche Allg. Zeitung vom 28.10.05
(9) Reemtsma, Jan Philipp, Nathan schweigt. Rede zur Verleihung des Lessing Preises, in: Die Zeit, Nr. 49 / 1997
(10) G. E. Lessing, Nathan der Weise, Übertragen von Fausia Hassan, Kairo 2005 (vgl. Debatte / Veröffentlichungen PDF).
Im Jahr 2003, zur Eröffnung der Deutschen Universität beendete die Germanistin Fausia Hassan ihre Neu-Übertragung, zeitgleich zur Frankfurter Buchmesse 2004 wurden in Kairo und Alexandria auf dieser Text-Grundlage eine vom Goethe-Institut geförderte Aufführungen gezeigt und seit dem Sommer 2005 liegt diese arabische Version auch gedruckt vor.